Der Tod ist noch immer mit einem Tabu belegt

Die meisten Menschen verdrängen und tabuisieren den Tod. Sofern es um den eigenen Tod geht und nicht um den Tod an sich. Michael Wolffsohn weiß: „Zur Kulturgeschichte der Menschheit gehört die Angst vor dem eigenen Tod ebenso wie vor dem Tod des oder der geliebten Menschen. Im Banne dieser Ängste lebt der Mensch heute, lebte er immer.“ Die „Angst vor dem Partnerverlust“ ist eine menschliche Urangst. Die Menschen sind von Natur aus gesellig und vertragen Einsamkeit in der Regel nicht sehr lange. Auch der Tod zerschneidet Bindungen und bringt für die Überlebenden die Gefahr der Vereinsamung. Hiergegen steuert die Kultur des Totengedenkens, auch natürlich die Zeremonie der Bestattung, kurz Trauer und Trauerrituale an sich. Prof. Dr. Michael Wolffsohn war von 1981 bis 2012 Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München.

Bestattungsrituale lindern den Schmerz

Rituale und Brauchtum vertreiben nicht den Schmerz, aber sie lindern ihn. Dieser Linderung dienen in allen Kulturen der Menschheit die Bestattungsrituale. Vielfältig sind sie weltweit: Da gibt es die Bodenbestattung, Feuerbestattung, Seebestattung, Baumbestattung und andere Formen. Wer auf welche Formen auch immer verzichtet, verwehrt sich Linderung oder Trost. Er wird sich nach dem Tod geliebter Menschen noch leerer, einsamer, untröstlicher fühlen und vor dem eigenen Tod noch größere Angst haben.

Michael Wolffsohn stellt fest: „Bestattung und Trauer, die man in der Natur nur beim Menschen findet, erfüllen also nicht nur einen hygienischen und volksgesundheitlichen Zweck, sie erfüllen auch einen seelischen Sinn.“ Trauer und Trost thematisieren zwar den Tod und sind mit Schmerz verbunden. Doch letztlich helfen sie den Menschen, und erst durch sie hebt sich der Mensch als Mensch von anderen Lebewesen in der Natur ab, denn nur Menschen trösten Trauernde, nur sie bestatten Tote.

Viele Menschen wollen den Tod nicht wahrhaben

Laut Verhaltensforschung ist die Trauer ein Appell an die Umwelt, Bindungen an den Trauernden zu festigen und zu bestätigen. Dadurch wird ihm ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt und die befürchtete Vereinsamung durch den Tod des oder der Geliebten abgeschwächt. Es gibt auch Menschen, die sich nach dem Toten sehnen und haben dennoch auch vor ihnen Angst und tabuisieren somit die Existenz der Toten. Sie lassen sie sozusagen ein zweites Mal sterben.

Fast alle Kulturen versuchen auf diese oder jene Weise die Totengeister fernzuhalten. Wer Dramen von William Shakespeare kennt, weiß um die albtraumhaften Schrecken, die Totengeister bei Lebenden auslösen können. Michael Wolffsohn erläutert: „In der Regel wollen wir Menschen überall und immer, in allen Kulturen und zu jeder Zeit, nicht nur in unserer Gesellschaft, weder den eigenen Tod noch den Tod der geliebten Menschen wahrhaben.“ Viele Menschen suchen deshalb Trost in Religionen, die ein Weiterleben oder eine Wiederkehr verkünden, so dass sie im Ritual einen Abschied auf Zeit gestalten können. Quelle: „Tacheles“ von Michael Wolffsohn

Von Hans Klumbies