Niemand steht gerne in einer Warteschlange. Wer dafür bezahlt, darf sich möglicherweise vordrängeln. Mit einen hohen Trinkgeld kann man zum Beispiel in einem Edelrestaurant einen Sitzplatz ergattern, obwohl eigentlich scheinbar alle reserviert waren. Michael J. Sandel schreibt: „Solche Trinkgelder sind quase Bestechungsgelder und werden diskret gehandhabt.“ Der Verkauf von solchen Sonderrechten ist seiner Meinung nach in den vergangenen Jahren zu einer vertraulichen Praxis geworden. Lange Warteschlangen bilden sich auch oft vor den Sicherheitskontrollen auf Flughäfen und machen die Warterei zur Qual. Wer allerdings Flugtickets für die erste Klasse oder die Business Class besitzt, hat Vorrang und darf an den Wartenden vorbei zur Überprüfung schreiten. Michael J. Sandel ist politischer Philosoph, der in Oxford studiert hat und seit 1980 in Harvard lehrt. Seine Vorlesungen über Gerechtigkeit machten ihn zu einem bekanntesten Moralphilosophen der Gegenwart.
Auch Freizeitparks verkaufen inzwischen das Recht zum Vordrängeln
Kritiker dieser Praxis fordern, dass es bei den Sicherheitskontrollen in Flughäfen keine käufliche Überholspur geben sollte. Die Fluglinien erwidern, dass jeder Passagier den gleichen Intensität der Kontrolle unterworfen sei, nur die Wartezeit ändere sich je nach dem Preis, den der Kunde für das Ticket bezahlt hat. Laut Michael J. Sandel haben inzwischen auch Freizeitparks damit begonnen, das Recht zum Vordrängeln zu verkaufen, denn üblicherweise verbringen die Besucher vor den beliebtesten Attraktionen Stunden mit Warten.
Als Beispiel nennt Michael J. Sandel die Universal Studios in Hollywood. Dort gibt es inzwischen eine Möglichkeit die Wartezeit zu vermeiden. Michael J. Sandel erklärt: „Man bezahlt ungefähr das Doppelte des normalen Eintrittsgeldes und erhält dafür einen Ausweis, mit dem man ans vordere Ende der Schlange springen kann.“ Viele Vergnügungsparks verschleiern diese Praxis geschickt. Um die gewöhnliche Kundschaft nicht zu verärgern, gewähren sie ihren Premiumgästen Einlass durch Hintertürchen und gesonderte Tore.
Vordrängeln gegen Bezahlung widerspricht dem Gebot der Fairness
Dieses Bedürfnis nach Diskretion legt für Michael J. Sandel den Verdacht nahe, dass das Vordrängeln gegen Bezahlung dem Gefühl zuwiderläuft, es sei ein Gebot der Fairness, dass alle gleichermaßen zu warten hätten, bis sie an der Reihe sind. Der Trend zur schnellen Sonderspur lässt sich laut Michael J. Sandel auch auf den Freeways der USA beobachten. Er erläutert: „Zunehmend können dort Pendler dem zäh fließenden Berufsverkehr auf eine schnelle Sonderspur entkommen.“
Auch hier gibt es selbstverständlich Kritiker, die nichts davon halten, das Recht, eine Überholspur zu benutzen, zum Kauf anzubieten. Sie vertreten die Meinung, dass die Ausbreitung von schnellen Sonderspursystemen lediglich den Reichen zugute käme und die Armen ans Ende der Warteschlange verweise. Michael J. Sandel fügt hinzu: „Gegner der gebührenpflichtigen Sonderspuren bezeichnen sie als Lexus-Spuren – in Anlehnung an die berühmte japanische Luxuskarosse – und meinen, sie seinen unfair gegenüber den Pendlern mit bescheidenen Mitteln.“
Von Hans Klumbies