Ohne Wahrheit gibt es kein Vertrauen

Kann es sein, dass viele Menschen niemandem mehr vertrauen, weil sie niemandem Aufrichtigkeit unterstellen? Weil sie annehmen, fast jeder belüge sie? Martin Hartmann weiß: „Wenn es keine Wahrheit gibt, kann es kein Vertrauen geben – das ist ein häufig hergestellter Zusammenhang. Ebenso üblich ist es, einen Zusammenhang zwischen Vertrauen und Aufrichtigkeit herzustellen.“ Die meisten Menschen vertrauen denen, von denen sie glauben, dass sie aufrichtig sagen, was sie denken oder beabsichtigen. Sie vertrauen jenen nicht, die sie anlügen, täuschen oder die unwahrhaftig sind. Wenn sie doch jemandem Vertrauen schenken, der sie anlügt, kann das ein Unglück sein. All diese Zusammenhänge sind in Wirklichkeit viel komplizierter, als man es gemeinhin annimmt. Martin Hartmann ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Luzern.

Es gibt das Phänomen der offenen Lüge

Selbst eine Lüge muss nicht zwangsläufig Vertrauen zerstören, wenn sie etwa geäußert wird, um einen guten Freund zu schonen oder um andere nicht zu verletzen. Martin Hartmann nennt ein weiteres Beispiel: „Oder wir lügen, weil wir jemandem versprochen haben, sein Geheimnis nicht preiszugeben, sodass die Lüge Bestandteil des Spielraums ist, der durch Vertrauen eingeräumt wird.“ Auf der anderen Seite gibt es das Phänomen, das Martin Hartman als offene Lüge bezeichnet.

Dabei handelt es sich um eine Lüge, die sofort als Lüge durchschaut wird. Trotzdem scheint sie kommunikative Funktionen zu erfüllen. Die Sprachphilosophie kennt das Phänomen der offenkundig wahren Aussage. Viele Menschen erzählen anderen oft Dinge, von denen sie wissen, dass ihre Mitmenschen sie auch kennen. Damit liefern sie keine neuen Informationen. Warum tun sie das? Offenkundig wahre Aussagen erinnern sie daran, dass sie an derselben Welt teilhaben und dieselben Dinge hervorstechend finden.

Nicht jeder durchschaut eine Unwahrheit

Offenkunde Lügen oder offenkundig unwahre Aussagen scheinen dem gegenüber die Idee einer gemeinsamen Welt zu attackieren oder gar zu untergraben. Mit einer offenbaren Unwahrheit unterstellt Martin Hartmann eine Täuschung, wenn auch nicht die, die offensichtlich ist: „Wer mit offen anlügt, täuscht mich in einer gewissen Hinsicht nicht, aber er sagt mir auch nicht die Wahrheit.“ Nicht jeder durchschaut allerdings eine geäußerte Unwahrheit als solche.

Nur derjenige kann sie durchschauen, der über alternative Möglichkeiten der Informationsbeschaffung verfügt und sie auch nutzt. Es gibt leider eine Menge Länder, in denen die Politik die Medien staatlich kontrolliert. In diesen Ländern sind die Lügen, die Martin Hartmann als offen bezeichnet, schlicht Lügen. Wer dagegen bestimmten Medien vorwirft, Fake News zu produzieren, behauptet, sie würden lügen. Er nimmt damit eine Wahrheit in Anspruch, auf die er sich in seinem kritischen Urteil stützt. „In Wirklichkeit ist es anders, als ihr behauptet“, so ungefähr lautet der Vorwurf. Quelle: „Vertrauen“ von Martin Hartmann

Von Hans Klumbies