Ein starker Mensch träumt nicht von Vergeltung

Martha Nussbaum betont, welche Rolle die Hilflosigkeit bei der Vergeltung spielt: „Vergeltungswünsche sind häufig Ausdruck verdrängter grundlegender Machtlosigkeit und vermitteln die Illusion, man könnte an seiner schlechten Situation etwas ändern.“ Entsprechend ließe sich vermuten, dass Menschen und auch Institutionen desto eher Gnade walten lassen könnten, je mehr Vertrauen sie in die eigene Stabilität und ihre eigene Macht haben. Und in der Tat hat der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche eine solche Verbindung überzeugend dargestellt. Wie der römische Philosoph Seneca vertritt er die Auffassung, dass die Rachemoral, die er im Christentum erkennt, psychologisch mit einem Gefühl der Schwäche und der Machtlosigkeit verbunden ist. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

Die Gnade besteht auf der Wahrheit

Friedrich Nitzsche zeichnet nach, wie aus diesem Gefühl der Ohnmacht schließlich Lust an fantasierten Vergeltungsplänen wird, derer sich häufig Gott im Jenseits annimmt. Vergeltung dürfte seiner Meinung nach nicht zu den Dingen zählen, mit denen ein starker Mensch oder eine starke Gesellschaft sich normalerweise hauptsächlich befasst. Tatsächlich würden sie ihr Interesse an Vergeltung nach und nach selbst überwinden und sich immer mehr auf die Gnade zubewegen.

Die Gnade besteht auf der Wahrheit, darum wischt sie eine Unrechtshandlung niemals beiseite oder „vergisst“ sie, wie das manchen Darstellungen zufolge bei der Vergebung der Fall ist. Dies ist ein sehr bedeutender Unterschied. Es gibt jedoch noch zwei andere, stärker ins Gewicht fallende Unterschiede: Der Gnade muss keineswegs der Zorn vorausgehen. Sie kann – und häufig tut sie genau das – reinen Übergangszorn bekunden, die Unrechtshandlung einfach anerkennen, allerdings in einem vorausschauenden und großzügigen Geist.

Gnade steht der Art bedingungsloser Liebe nahe

Anders ausgedrückt könnte man sagen, dass es beim Vergeben ausschließlich um die Frage des Umgangs mit der Vergangenheit geht. Bei der Gnade, von der Seneca spricht, geht es dagegen von Anfang an um die Zukunft: Der Blick ist nach vorn auf die Wiedereingliederung gerichtet. Wenn sich kurzzeitig Zorn bemerkbar macht, wendet die Gnade sich schnell dem Übergang zu. Schließlich, und darin besteht der dritte Unterschied, erfordert Vergebung im transaktionalen Sinn eine Entschuldigung.

Gnade dagegen belässt es einfach dabei und richtet den Blick auf den nächsten Tag. Martha Nussbaum erläutert: „Gnade steht demnach der Art bedingungsloser Vergebung oder besser von bedingungsloser Liebe nahe, der einige unserer abweichenden religiösen Texte Gestalt geben und der unsere noch kommenden Beispiele revolutionärer Gerechtigkeit Gestalt geben werden.“ Sie lehnt es ab, sich auf gegenseitige Schuldzuweisungen einzulassen oder eine Hierarchie von gut (Opfer) und böse (Täter) zu begründen. Aus diesem Grund bringt sie den Täter nicht in eine erniedrigende oder demütige Lage. Quelle: „Zorn und Vergebung“ von Martha Nussbaum

Von Hans Klumbies