Das erste Ziel der Wanderungsbewegung nach Europa in großem Stil war Italien. Hans-Peter Klein blickt zurück: „Als im Jahr 2011 der libysche Staat des Diktators Gaddafi zerschlagen wurde und das Land in Bürgerkriegswirren versank, setzte die Flucht über das Mittelmeer ein. Bald schlugen Hilfsorganisationen, die Kirchen und einige E-Medien Alarm.“ Dabei beunruhigte nicht so sehr die Erwartung eines kaum zu bewältigenden Ansturms von Flüchtlingen, sondern vielmehr, dass viele von ihnen der Schleuserkriminalität auf der Mittelmeerroute zum Opfer fielen. Seit 2013 berichtete das Fernsehen erst sporadisch, dann häufiger und alarmierend über die unglaublichen Vorgänge: Massenflucht übers Mittelmeer, gesteuert durch Schleuserbanden, schreckliche Havarien, unmögliche Zustände in den italienischen Aufnahmelagern und weitgehende hilflose Behörden in Rom und bei der EU in Brüssel. Hans-Peter Schwarz zählt zu den angesehensten Politologen und Zeithistorikern in Deutschland.
Für das Jahr 2015 rechneten die deutschen Behörden mit 400.000 Asylbewerbern
Wie in der Presse zu lesen war, hatten sich im ersten Viertel des Jahres 2015 schon um die 500.000 Flüchtlinge übers Mittelmeer gerettet, schätzungsweise 2.000 waren dabei ertrunken. Hans-Peter Schwarz stellt fest: „Dass sich zur gleichen Zeit Hunderttausende aus den Kriegen und Bürgerkriegen in Syrien, in Afghanistan und im Irak sowie aus den Flüchtlingslagern in der Türkei nach Griechenland aufmachten, wurde anfangs kaum registriert.“ Noch dachte jedoch niemand daran, diese Vorgänge mit dem Begriff Völkerwanderung zu bezeichnen.
Im Frühjahr 2015 war schließlich der Punkt erreicht, an dem die Massenflucht übers Mittelmeer nach einem drastischen Begriff verlangte: „Die neue Völkerwanderung“. Das Stichwort wurde umgehend im politischen Raum aufgegriffen. In der Presse wurde berichtet, dass die deutschen Behörden für das Jahr 2015 mit 400.000 Asylbewerbern rechneten – doppelt so viele wie 2014. Bis Mitte 2015 kam übrigens ein beträchtlicher Teil der Asylbewerber noch vom westlichen Balkan, vorwiegend aus Albanien und dem Kosovo.
Seit Jahrhunderten hat es eine derartige Massenmigration nicht mehr gegeben
Doch zusehends löste die Tatsache Beunruhigung aus, dass immer mehr Flüchtlinge aus Afrika und den Flüchtlingslagern des Nahen Ostens in Italien und Griechenland an Land gingen und von dort ungehindert nach Norden weiterzogen. Elmar Brok, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments, sagte damals: „Eine Völkerwanderung steht an, die wir in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten nicht gesehen haben.“ Schon wenige Wochen später kursierten bereits Schätzungen von weit über einer Million Flüchtlinge, die allein im Jahr 2015 Deutschland erreichen würden.
Der häufig verwandte Begriff Flüchtlingskrise ist zu schwach und wird dem gewaltigen Druck nicht gerecht, der sich jenseits der EU-Außengrenze aufgebaut hat und wohl lange nicht nachlassen wird. Die Worte Massenmigration und Elendsmigration sind dem Vorgang angemessen, werden aber von denen nicht gern gebraucht, die auf die individuellen Schicksale aufmerksam machen und zudem zwischen dem Asyl für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge und der umfassenden Migrationsthematik unterscheiden möchten. Erst recht wird das Stichwort Invasion von allen verabscheut, die den humanitären Aufgaben vorrangige Beachtung schenken. Quelle: „Die Völkerwanderung nach Europa“ von Hans-Peter Schwarz
Von Hans Klumbies