Algorithmen benötigen eine stabile Welt

Beim Online-Dating hat zwar jede Person ein Profil, aber das Profil ist nicht die Person. Gerd Gigerenzer weiß: „Die Menschen neigen dazu, ihre Profile zu schönen. Und selbst wenn sie gewissenhaft zu Werke gehen, wird das Profil nicht der Vielschichtigkeit eines Menschen gerecht.“ Allgemeiner kommt diese Erkenntnis im „Prinzip der stabilen Welt“ zum Ausdruck. Komplexe Algorithmen arbeiten am zuverlässigsten in wohldefinierten, stabilen Situationen, in denen große Datenmengen zur Verfügung stehen. Die menschliche Intelligenz dagegen hat sich entwickelt, um Ungewissheit zu bewältigen, unabhängig davon, ob Big oder Small Data vorliegen. Die Regeln von Schach oder Go sind wohldefiniert und insofern stabil, als sie heute und morgen gelten. Gerd Gigerenzer ist ein weltweit renommierter Psychologe. Das Gottlieb Duttweiler Institut hat Gigerenzer als einen der hundert einflussreichsten Denker der Welt bezeichnet.

Die Künstliche Intelligenz hat keine Wunderkräfte

Es gibt keine Ungewissheit im Hinblick auf die Beschaffenheit der Regeln und auf die Frage, ob sie sich in Zukunft vielleicht unerwartet verändern. Dagegen müssen die Regeln zwischen Liebespartnern verhandelt werden und können jederzeit verletzt werden. Das Prinzip der stabilen Welt lässt sich auch anwenden, um die Zukunft vorherzusagen. Dazu benötigt man eine „solide Theorie, zuverlässige Daten“ sowie eine „stabile Welt“. Tech-Unternehmen versuchen jedoch häufig, menschliches Verhalten vorherzusagen, ohne über eine gute Theorie, zuverlässige Daten oder eine stabile Welt zu verfügen.

Gerd Gigerenzer erklärt: „Wenn Sie sich um eine Stelle bewerben, wird vielleicht ein Algorithmus Ihre Bewerbungsunterlagen durchleuchten und eine Empfehlung abgeben, ob Sie zu einem Einstellungsgespräch eingeladen werden.“ Hier sind die versprochenen Wunderkräfte von Künstlicher Intelligenz (KI) oft ein Trugbild. Die Unterscheidung, die Gerd Gigerenzer trifft, entspricht derjenigen zwischen Risiko und Ungewissheit, die ursprünglich von dem Wirtschaftswissenschaftler Frank Knight stammt.

Viele Situationen sind geprägt von Risiko und Ungewissheit

In Risikosituationen, wie zum Beispiel beim Roulette, kennt man alle denkbaren Ergebnisse im Voraus sowie ihre Konsequenzen. Dagegen kann man in Situationen der Ungewissheit nicht alle Resultate oder deren Konsequenzen schon im Vorfeld wissen. Das ist der Fall, wenn man einen Mitarbeiter einstellt, ein Start-up gründet oder die Infektionsraten von Grippe oder Covid-19 vorhersagt. Finanzexperten verwenden die Begriffe „radikale Ungewissheit“ oder „schwarze Schwäne“, um eine Welt zu charakterisieren, in der die Zukunft nicht berechenbar ist und Überraschungen geschehen.

In diesen Situationen, so Frank Knight, reicht Rechenleistung nicht aus. Stattdessen braucht man Urteilsfähigkeit, Intelligenz, Intuition und den Mut, Entscheidungen zu fällen. Gerd Gigerenzer betont: „Viele Situationen sind eine Mischung aus Risiko und Ungewissheit, woraus folgt, dass sowohl Computer wie menschliche Intelligenz beteiligt sein müssen.“ Das Prinzip der stabilen Welt stellt klar, dass Computer mit ihrer wachsenden Rechenleistung bald alle Probleme in „stabilen“ Situationen besser lösen werden als Menschen. Quelle: „Klick“ von Gerd Gigerenzer

Von Hans Klumbies