Der Narzissmus erzeugt ein künstliches Selbst

Der amerikanische Journalist David Brooks setzt den Narzissmus mit Egomanie gleich. Seine Abhandlung „Charakter“ stellt die Menschen und insbesondere die Jugend der Gegenwart als egoorientierte, sich selbst vermarktende, kaum mehr Werten verpflichtete Wesen dar. Georg Milzner ergänzt: „Von ihren Eltern dahingehend geprägt, sich selbst als besonders und wertvoll anzusehen, betrachten sie, so Brooks, das Leben als etwas, das ihnen Erfüllung bieten soll, anstatt sich zu fragen, was das Leben und die Erfordernisse von ihnen verlangen könnten.“ David Brooks stellt die Wertfrage auf eine Weise, die in der Betrachtung der jungen Generation vor allem zu Abwertungen führt. Indem er bedeutende amerikanische Beispiele für Mut, Opferbereitschaft und Solidarität bemüht, erscheinen die Menschen unserer Tage als gierige Selbstbefriediger, denen jegliches Gefühl für echte Werte fehlt. Georg Milzner ist Diplompsychologe und arbeitet in eigener Praxis als Psychotherapeut.

Heranwachsende brauchen nichts so sehr wie Aufmerksamkeit

Georg Milzner betrachtet den weit verbreiteten Narzissmus der Gegenwart losgelöst von Etiketten anhand eines alltäglichen Phänomens. Es gibt vermutlich keine aktuelle Erscheinung, die so sehr mit dem Begriff „Narzissmus“ belegt wird wie der Trend, Bilder von sich zu machen und zu posten. Tanzen diese Menschen offensichtlich um sich selbst herum wie um einen Totempfahl, der für das Allerheiligste steht? Vielleicht. Vielleicht ist der Selfie-Trend aber auch lediglich die individuelle Antwort auf die Forderungen der Netz- und Bilderwelt, die diese Menschen zunehmend einspannen.

In diesem Fall würde jeder der so gern belächelten, sich selbst fotografierenden Reisenden an einem Zeitphänomen teilnehmen, das sie nicht gewollt und auch nicht hervorgebracht haben. Und das aber, da sich das Phänomen überall findet und immer mehr Menschen an ihm beteiligt sind, laut Georg Milzner etwas Zwingendes bekommt. Um den Narzissmus als künstliches Selbst zu begreifen, muss man verstehen, dass der Entzug oder das verminderte Spenden von Aufmerksamkeit zu den schlimmsten Dingen gehören, die einem Heranwachsenden widerfahren kann.

Der Ödipuskomplex steht für ein extrem starke Mutterbindung

Gewiss, in der Gegenwart erscheinen das übermäßige Behüten und Beachten der Kinder ein großes Problem zu sein. Aber unter diesem Phänomen verbirgt sich ein anderes, viel tiefer wirksames Dilemma. Sigmund Freud liebte neben den antiken Philosophen vor allem die Tragödiendichter, insbesondere Sophokles. Seine Verwendung antiker Bilder zur Veranschaulichung psychischer Prozesse wurde insbesondere im Fall des Ödipuskomplexes zu einer gesellschaftlichen Standardformel, die heute umgangssprachlich für jede Art von ungewöhnlich starker Mutterbindung steht.

Mit dem Narzissmus verhält es sich ähnlich. Seine Geschichte, die von antiken Autoren mehrfach erzählt worden wurden, insbesondere die Fassung, die Ovid in den „Metamorphosen“ vorstellt, wurde berühmt. Danach ist Narziss ein schöner Jüngling, verurteilt dazu, sich unsterblich in sein eigenes Spiegelbild zu verlieben. In einer Fassung führt das dazu, dass Narziss vor dem Teich, in dessen Spiegel er sich betrachtet, in den Teich stürzt, als er versucht, sein Spiegelbild zu küssen. Hilflos ertrinkt er. Quelle: „Wir sind überall, nur nicht bei uns“ von Georg Milzner

Von Hans Klumbies