Auf kurze Sicht sind Religion und Bildung kein Widerspruch

In Europa war eine religiöse Revolution die Ursache der universellen Alphabetisierung, die ihrerseits den wirtschaftlichen Aufschwung ermöglichte. Emmanuel Todd fügt hinzu: „Der Glaube nährte den Fortschritt. Dem Protestantismus gelang auf dem Kontinent das, was das Judentum in den Hochlagen des Nahen Ostens nur ansatzweise zu erreichen versucht hatte: eine Bevölkerung in ihrer Gesamtheit in die Welt der Schrift einzuführen.“ Auf kurze Sicht ist zwischen Bildung und Religion kein Widerspruch erkennbar. Der französische Historiker Lucien Febvre zeigte sehr gut die Unfähigkeit der Humanisten, sich vom Bild eines höheren Wesens zu lösen. Zwischen 1550 und 1650 ist ein Europa eine Koexistenz zwischen einem wieder auflebenden religiösen Glauben, einer ersten Alphabetisierung der Massen, der Angst vor dem Teufel und großen Hexenverfolgungen zu verzeichnen. Emmanuel Todd ist einer der prominentesten Soziologen Frankreichs.

Gott als Schöpfer und Lenker wurde infrage gestellt

Emmanuel Todd stellt fest: „Aber auch wenn die Alphabetisierung in der ersten Phase den Einfluss religiöser Träume und Alpträume auf die Geister verstärkt hatte, führte sie wenig später zur wissenschaftlichen Revolution.“ Trotz der Bedeutung des Pisaners Galileo Galilei fand die moderne Physik ihre wichtigste Heimat in Nordwesteuropa, also da, wo die Hälfte der männlichen Individuen lesen konnte. Und die sich entwickelnde Physik schuf die Voraussetzung dafür, dass Gott als Schöpfer und Lenker aller Dinge infrage gestellt wurde.

Manche der Akteure, welche die Natur in mathematische Formeln gossen, versuchte ihren religiösen Zweifel mit köstlichen Paralogismen zu begegnen: René Descartes 1644 mit seinem „Cogito ergo sum“, das nach zahlreichen gewundenen Gedankengängen zu einem Beweis für die Existenz des höchsten Wesens führte; Blaise Pascal, schlichter und seltsamer, mit seiner berühmt gewordenen „Wette“, die für das Jahr 1670 sehr utilitaristisch anmutet. Dagegen ließ sich Isaac Newton, der wahre Begründer der Physik, auf keine Vermischung der Genres ein.

Die breite Masse verlor den Glauben an die Religion

Mit seiner „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ von 1687 legte Isaac Newton die Grundlagen der modernen Naturwissenschaft, hielt als Privatperson aber am Christentum fest, das ziemlich unorthodox, aber insofern konservativ war, als er sich voller Respekt für die heiligen Schriften interessierte. Paradoxerweise hatte die Krise des Glaubens ihr Epizentrum anstatt in England, den Niederlanden oder Deutschland und anstatt im Protestantismus eher in Frankreich und im Katholizismus.

Schon im 17. Jahrhundert zeigten die französischen Eliten eine ausgezeichnete Fähigkeit zum Zweifel, die sich mit den „Libertins“ bemerkbar machte, mit Freidenkern, bei denen es sich hauptsächlich um atheistische Philosophen handelte. Das Volk sollte ihnen folgen. Im 18. Jahrhundert war ein erhebliches Gebiet des katholischen Raums, insbesondere das Pariser Becken, von einem ersten religiösen Zusammenbruch betroffen, der sich soziologisch in einem Rückgang der Glaubenspraxis in der breiten Masse niederschlug. Quelle: „Traurige Moderne“ von Emmanuel Todd

Von Hans Klumbies