Die Kirche begreift die Geburt als Wunder

Es gibt kaum Literatur zum Thema Geburt. Und wenn es welche gibt, drängt man sie an den Rand „erhabener“ Wissensbestände. Emanuele Coccia stellt fest: „Dafür sind bildliche Zeugnisse im Überfluss vorhanden und haben über die Jahrhunderte die Reflexionen rund um dieses Phänomen genährt.“ Tatsächlich zählt die Nativität zu den häufigsten Motiven der europäischen Malerei. Allerdings ist der Blick der Maler durch das theologische Prisma verzerrt. Die Geburt, die sie schildern, ist kein gewöhnliches, sondern ein einmaliges, nicht darstellbares und widernatürliches Ereignis. Die christliche Theologie hat dazu beigetragen, die Geburt zu etwas Undenkbarem zu machen. Denn sie ließ sie aus jeglichem naturalistischen Rahmen heraustreten, wusste sie gegen die Natur auszuspielen und begriff sie als Wunder. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

Die Bibel entkoppelt die Geburt von der Natur

Im christlichen Mythos wird die Geburt zum Synonym für eine absolute Neuheit. Nämlich die Erfahrung einer alle natürliche Ordnung transzendierenden Macht. Die Natur als Ganzes wird ins Abseits verbannt. Wie in einem apokryphen Evangelium zu lesen ist: „In jener Stunde ruhte alles in tiefem Schweigen un Angst. Die Winde flauten ab und wehten nicht mehr. Von den Blättern der Bäume regte sich keins mehr, kein Rauschen der Wasser war zu hören. Es gab keine Wogen des Meeres, und alle Wasserquellen schwiegen.“

Die Bibel entkoppelt die Geburt aber nicht nur von der Natur, sondern auch von der Mutterschaft. Es findet eine wechselseitige Enteignung von Mutter und Kind auf physiologischer und metaphysischer Ebene statt. Die Mutter ist in Anbetung vor dem Kind. Diese Theologie der Nativität hat die Geburt zur reinen Frauensache reduziert. Frauen besäßen die Fähigkeit, ohne einen Mann und ohne männlichen Samen Leben zu schenken. Damit fällt die Arbeit ausschließlich der Frau zu.

Die göttliche Geburt ist frei von Lust und schmerzlos

Die göttliche Geburt ist im Unterschied zu allen anderen Geburten ohne Sünde, schmerzlos, frei von Lust, Verschmelzung und Metamorphose. Emanuele Coccia erklärt: „Nach und nach wurde dieses wundersame Ereignis säkularisiert und durch Bedeutungserweiterung zur menschlichen Geburt.“ Hannah Arendt deklarierte die Geburt zur menschlichen und anthropogenetischen Erfahrung schlechthin. An anderer Stelle spricht sie sogar von der „Göttlichkeit der Geburt als solcher“.

Hannah Arendt schreibt: „Folglich ist die Geburt der Eintritt eines neuen Geschöpfes, das mitten im Zeitkontinuum der Welt als etwas völlig Neues erscheint.“ Insofern betrifft sie vor allem die Menschen. Nur die Menschen werden geboren, denn nur die Menschen sind „Initium, Neuankömmlinge und Anfänger von Geburt an“ und nur sie „ergreifen die Initiative, werden zum Handeln veranlasst“. Und erst mit dem Erscheinen des Menschen, so Hannah Arendt, sei „das Anfangsprinzip in die Welt gekommen.“ Quelle: „Metamorphosen“ von Emanuele Coccia

Von Hans Klumbies