Eine niedrige Geburtenrate ist ein großer Gewinn

Folgende Stimmungslage ist in Deutschland weit verbreitet: Dem Land gehen wegen der wenigen Geburten die Arbeitskräfte aus; das Land verliert an Innovationskraft und degeneriert zum Altersheim; die Renten werden bald nicht mehr bezahlbar, der Staatshaushalt leidet Not. Auf die Frage der Demoskopen nach den größten Gefahren für Deutschland antworteten 56 Prozent: Dies sei die Alterung der Gesellschaft. Für wünschenswert halten die Mahner mindestens 2,1 Kinder pro Frau. Mit dieser Durchschnittsgröße sei der Bestand des Volkes gesichert. Von diesem Zielwert sind die Deutschen jedoch weit entfernt. Wolfgang Kaden kennt die Zahlen: „Sie brachten es 1995 gerade mal auf 1,25 Kinder. Zuletzt war der Jubel groß, als die Geburtenrate für 2015 auf 1,5 gestiegen war.“ Wolfgang Kaden gehört zu den renommiertesten Wirtschaftsjournalisten des Landes.

Deutschland leidet an einem Bevölkerungswahn

Die anhaltende Aufregung über ein angeblich dramatisches Geburtendefizit kann Wolfgang Kaden nicht nachvollziehen. Und das nicht nur aus übergeordneten, ökologischen Gründen – weil die Spezies Mensch sich in den vergangenen 150 Jahren mit einer so atemberaubenden, die dagewesenen Geschwindigkeit vermehrt hat, dass die schiere Masse unserer Gattung zur größten Bedrohung für die Lebensmöglichkeiten auf der Erde geworden ist. Sondern auch und gerade mit Blick aufs eigene Land.

Zunächst einmal schimmert für Wolfgang Kaden bei den Panikattacken allzu sehr völkisches Gedankengut durch, das sich offenkundig über alle gesellschaftlichen Veränderungen hinweg festgesetzt hat. Den „deutschen Bevölkerungswahn“ nannte das der verstorbene Soziologe Karl Otto Hondrich. In seinem 2007 erschienenen Buch „Weniger sind mehr“ hat er überzeugend dargelegt, warum der Geburtenrückgang mitnichten einen Grund für apokalyptische Szenarien biete, sondern im Gegenteil, „ein Glücksfall für unsere Gesellschaft“ sei.

Ein Kind kostet bis zum Eintritt in den Beruf mindestens 200.000 Euro

Vor allem bedeutet der Geburtenrückgang einen „Modernisierungsgewinn“. Wolfgang Kaden erläutert: „Mit steigendem Wohlstand und höherer Bildung sinkt in der Regel die Kinderzahl. Oder: je höher die ökonomische Produktivität, umso geringer die Fertilität.“ Abgesehen von den fehlenden Möglichkeiten und Kenntnissen der Empfängnisverhütung, gab es in agrarischen und frühindustriellen Gesellschaften zwei gute Gründe für reichen Nachwuchs. Zum einen waren Kinder Arbeitskräfte. Zum anderen benötigte man sie, damit im Alter der Lebensunterhalt gesichert war.

Beide Gründe sind längst entfallen. Kinderarbeit ist in entwickelten Volkswirtschaften verboten, zudem besteht Schulpflicht. Und für das Einkommen in der letzten Lebensphase sorgt hierzulande seit über hundert Jahren die staatliche Pflichtversicherung. Heutzutage gibt es in modernen Gesellschaften viele Gründe, warum Menschen wenige oder gar keine Kinder haben wollen. Ganz oben stehen, so ist die Welt nun einmal, ökonomische Erwägungen. Eigener Nachwuchs kostet Geld, heute mehr denn je zuvor. Pro Kind sind es bis zum Eintritt in den Beruf mindestens 200.000 Euro, je nach Dauer der Ausbildung und dem Konsumstandard der Familie. Quelle: Bilanz – Das deutsche Wirtschaftsmagazin

Von Hans Klumbies