Die Berufung auf die deutsche Vergangenheit erlaubte es der Bundesrepublik Deutschland immer wieder, schwierige bündnispolitische Entschlüsse gemäß innenpolitischer Opportunität und innerdeutschen Meinungslagern zu fassen. Das Ausland erkannte jedoch darin einen Zug von Unberechenbarkeit. War Deutschland eine Weltmacht wider Willen? Edgar Wolfrum erläutert: „Pazifisten fanden es moralisch empörend, dass Deutschland überhaupt Waffen baute und sie verkaufte. Dagegen verwiesen die Prediger des Pragmatismus auf internationale Verpflichtungen.“ Zu einer Außenpolitik, die seiner Größe und Bedeutung entsprach, fand Deutschland offenbar nicht. Bundespräsident Horst Köhler stolperte 2010 aus dem Amt. Nur weil er eine unerhörte Selbstverständlichkeit angesprochen hatte: dass es zwischen Militäreinsätzen und wirtschaftlichen Interessen Verbindungen gebe. Deutschland blieb ein Land, das zwar zu den Motoren der globalen Ökonomie zählte. Aber es verweigerte jedoch die daraus resultierende Rolle beharrlich. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.
Deutschland muss Macht ausüben
Deutschland, so die Meinung vieler Experten, verrichtete außenpolitischen Dienst nur nach Vorschrift. Edgar Wolfrum stellt fest: „70 Jahre nach dem Krieg und 30 Jahre nach dem Mauerfall hatte Deutschland noch immer nicht gelernt, auf der Grundlage seiner Werte seine Interessen zu definieren und diese aktiv zu verfolgen.“ Jeder sollte jedoch wissen, dass ein Koloss wie Deutschland keine Wahl hatte, Macht auszuüben oder nicht. Es konnte beispielsweise keine deutsche Finanzpolitik geben, die nicht auch Effekte auf den Rest der Welt hätte.
Das Ausland glaubte es einem derart starken Land nicht mehr, wenn es sich zerknirscht und unsicher zeigte. Misstrauen entstand weniger, wenn die Deutschen sagten, was sie wollten, als wenn sie dies unterließen. Aus den zwei Frontstaaten des Kalten Krieges, BRD und DDR, war Deutschland seit 1990 zu einer Macht in der Mitte des Raumes der Europäischen Union (EU) geworden. Man hätte 1990 viel stärkeren Widerstand erwarten können gegen die Formierung einer neuen Mitte in Europa.
Die Finanzkrise offenbarte das neue Gewicht Deutschlands
Die Gegenwehr war jedoch so schwach wie nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871. Doch dazwischen lagen zwei Griffe Deutschlands nach der Weltmacht. Bundeskanzler Helmut Kohl und seine Berater wussten um die Probleme und Befürchtungen. Deshalb wählten sie eine defensive Rhetorik, um die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zu bewerkstelligen. Sie signalisierten unter anderem die Bereitschaft, die D-Mark aufzugeben und in einer Gemeinschaftswährung aufgehen zu lassen.
Deutschland machte sich klein und schmal. Die Frage ist für Edgar Wolfrum nur: Warum ist das so geblieben? Erst mit dem Beginn der Finanzkrise im Jahr 2008 wurde das neue Gewicht Deutschlands schlagartig sichtbar. Und alle, nicht zuletzt die Deutschen selbst, zeigten sich überrascht. Die „Macht in der Mitte“ war nicht nur eine geografische Position, sondern ebenso eine politische. Darunter fiel etwa auch das, was der Politologe Manfred G. Schmidt mit dem „mittlerem Weg“ in der Sozialpolitik beschrieb. Quelle: „Der Aufsteiger“ von Edgar Wolfrum
Von Hans Klumbies