Das Gedächtnis begründet die Identität

Es gibt eine ganz entscheidende Komponente, welche die Identität eines Menschen begründet. Und sie ist wahrscheinlich die Wesentliche, nämlich das Gedächtnis. Carlo Rovelli schreibt: „Wir sind keine Gesamtheit aus voneinander unabhängigen Prozessen, die in aufeinanderfolgenden Momenten ablaufen.“ Jeder Moment der Existenz ist über das Gedächtnis über einen besonderen doppelten Faden mit der Vergangenheit – der unmittelbar vorangehenden und der ferneren – verknüpft. Die Gegenwart eines Menschen wimmelt von Spuren aus seiner Vergangenheit. Menschen sind für sich selbst Geschichten oder Erzählungen. Was einen Menschen ausmacht, sind auch seine Gedanken. Jeder ist diese lange Roman, der sein Leben ist. Menschen bestehen unter anderem aus dem Gedächtnis, das die über die Zeit verstreuten Prozesse zusammenfügt. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik in Marseille.

Das Gehirn ist eine Zeitmaschine

In diesem Sinne existieren Menschen in der Zeit. Deswegen ist man nicht derselbe wie gestern. Sich selbst zu verstehen, heißt, über die Zeit nachzudenken. Aber die Zeit zu verstehen, heißt, sich selbst zu reflektieren. Der Titel eines Buchs über die Gehirnforschung lautet übersetzt: „Dein Gehirn ist eine Zeitmaschine.“ Es erörtert die zahlreichen Arten, wie das Gehirn mit dem Ablauf der Zeit interagiert und Brücken zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft baut.

Das Gehirn ist weitgehend ein Mechanismus, der Erinnerung aus der Vergangenheit sammelt und sie beständig dazu nutzt, Zukunft vorherzusagen. Carlo Rovelli erklärt: „Das geschieht in einem breiten Spektrum an zeitlichen Skalen, angefangen von sehr kurzen Zeiträumen bis zu sehr langen Zeiträumen.“ Die Möglichkeit Zukunft vorauszusehen, hat die Überlebensfähigkeit der Menschheit verbessert. Im Verlauf der Evolution haben sich deshalb durch Selektion entsprechende Nervenstrukturen herausgebildet, von denen die heutigen Menschen das Ergebnis sind.

Menschen befinden sich stets in der Gegenwart

Dieses Leben zwischen vergangenen und künftigen Ereignissen ist für die geistige Struktur der Menschen von zentraler Bedeutung. Das ist für sie der „Fluss“ der Zeit. Carlo Rovelli erläutert: „Unser Nervensystem ist zu Grundstrukturen verschaltet, welche die Koordination von Bewegung unmittelbar übernehmen.“ Was man wahrnimmt ist nicht die Gegenwart, sondern ein Geschehen, das in der Zeit ausgedehnt ist. Im menschlichen Gehirn verdichtet sich eine Ausdehnung in der Zeit zur Wahrnehmung von Dauer.

Erahnt wurde dies schon in der Antike. Die Betrachtungen des Augustinus von Hippo (354 – 430) dazu sind bis heute berühmt. Er stellt fest, dass die Menschen sich stets in der Gegenwart befinden, weil die Vergangenheit vergangen und damit ebenso inexistent ist wie die Zukunft, die erst noch kommen muss. Augustinus schlussfolgert aber, dass die Vergangenheit und die Zukunft in den Menschen selbst liegen: „In dir, mein Geist, messe ich die Zeiten; entgegne mir nicht: Wieso das?“ Für Augustinus ist also entweder der Geist selbst die Zeit, oder es ist nicht die Zeit, die er misst. Quelle: „Die Ordnung der Zeit“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies