Die Forschung konstruiert ein Bild der Welt

Das explizite Ziel wissenschaftlicher Forschung ist nicht, korrekte quantitative Vorhersagen zu machen, sondern zu verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Was bedeutet das? Carlo Rovelli antwortet: „Es bedeutet, ein Bild der Welt zu konstruieren. Das heißt eine konzeptuelle Struktur des Denkens über die Welt zu entwickeln, die effizient und kompatibel mit dem ist, was wir über sie wissen.“ Die Naturwissenschaften existieren, weil die Menschheit sehr wenig weiß und unzählige falsche Annahmen hegt. Wissenschaft wird aus dem geboren, was die Menschen nicht wissen und dem Bezweifeln dessen, was sie zu wissen meinen. Diese Meinung hält aber einer rationalen Überprüfung oder einer kritischen Analyse nicht stand. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

Die Wissenschaft träumt von neuen Welten

Wissenschaft ist eine ständige Suche nach der besten Weise, die Welt zu denken, die Welt zu sehen. Sie ist vor allem ein Erkunden neuer Denkformen. Lange bevor Wissenschaft technisch wird, ist sie visionär. Hipparch hätte seine Mathematik nicht entwickeln können ohne Anaximander, der keine Gleichungen kannte. Giordano Brunos unendliches Universum ebnete den Weg für Galileo Galilei und Edwin Hubble. Albert Einstein fragte sich, wie die Welt wohl aussehen würde, wenn man auf einem Lichtstrahl reitet.

Die Wissenschaft träumt von neuen Welten, um dann zu erkennen, dass diese Träume die Realität manchmal besser beschreiben als vorgefasste Meinungen. Carol Rovelli erklärt: „Dieser Prozess des Neudenkens der Welt läuft ständig ab. Die wirklich großen Revolutionen wie die von Anaximander, Charles Darwin oder Albert Einstein sind nichts weiter als die spektakulärsten Beispiele dafür.“ Die Art und Weise, wie die Menschen heute die Welt denken und ihre Gedanken strukturieren, ist jedoch ganz anders als die eines Babyloniers im Jahr 1000 v. Chr.

Die Welt verändert sich unaufhörlich

Diese tiefgreifende Veränderung ist das Ergebnis einer allmählichen Ansammlung von Wissen. Einiges ist allgemein anerkannt, anderes nur teilweise. Es ist bekannt, dass sich das Universum seit 14 Milliarden Jahren in rapider Ausdehnung befindet. Aber diese Vorstellung wird nicht von allen Menschen akzeptiert. Manche halten hartnäckig und wütend daran fest, dass dieses Universum erst seit 6.000 Jahren existiert, weil die Bibel dies sagt. Es gibt auch Kenntnisse, die unter Forschern akzeptiert, aber noch nicht ins Allgemeinwissen der Menschheit übergegangen sind.

Die Struktur der Raumzeit, die Albert Einstein in seiner Relativitätstheorie enthüllt hat, oder die Natur der Materie, wie sie die Quantenmechanik zeigt, beschreiben eine Welt, die ganz anders ist als die, die den meisten Menschen vertraut ist. Es braucht Zeit, sich daran zu gewöhnen, wie es auch zwei Jahrhunderte dauerte, bis sich die Kopernikanische Revolution in Europa durchgesetzt hatte und Teil der Allgemeinbildung wurde. Aber die Welt verändert sich unaufhörlich Schritt für Schritt, je mehr die Menschen verstehen. Quelle: „Die Geburt der Wissenschaft“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies