Der totalitäre Mensch ist radikal isoliert

Die Philosophin Hannah Arendt war eine der Ersten, die sich mit dem Totalitarismus auseinandersetzte. Sie beschrieb die „totalitäre Persönlichkeit“ als radikal isolierte Menschen, deren Bindung weder an die Familie noch an Freunde, Kameraden oder Bekannte einen gesicherten Platz in der Welt garantiert. Dass es überhaupt auf der Welt ist und in ihr einen Platz einnimmt, hängt für ein Mitglied der totalitären Bewegung ausschließlich von seiner Mitgliedschaft in der Partei und der Funktion ab, die sie ihm zugeschrieben hat. Anne Applebaum ergänzt: „Theodor W. Adorno, der vor den Nationalsozialisten in die USA geflohen war, vertiefte den Gedanken weiter. Unter dem Einfluss von Sigmund Freud suchte er die Ursprünge der autoritären Persönlichkeit in der frühen Jugend, etwa gar in unterdrückten homosexuellen Neigungen.“ Anne Applebaum ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

Jeder Dritte hat autoritäre Veranlagungen

Unlängst behauptete die Verhaltensökonomin Karen Stenner, dass rund ein Drittel der Bevölkerung jedes beliebigen Landes eine autoritäre Veranlagung habe. Sie beschäftigt sich schon seit zwei Jahrzehnten mit der Persönlichkeitsforschung. Den Begriff der Veranlagung zieht sie dem der Persönlichkeit vor, weil er weniger starr ist. Die autoritäre Veranlagung sehnt sich nach Homogenität und Ordnung und kann latent vorhanden sein, ohne sich äußern zu müssen. Dies trifft auch auf ihr Gegenteil zu, die freiheitliche Veranlagung, die Vielfalt und Unterschiede bevorzugt.

Karen Stenners Definition von „Autoritarismus“ ist nicht politisch und nicht deckungsgleich mit „konservativ“. Autoritarismus spricht viel mehr Menschen an, die keine Komplexität aushalten. Diese Veranlagung ist weder „links“ noch „rechts“, sondern grundsätzlich anti-pluralistisch. Sie misstraut Menschen mit anderen Vorstellungen ist allergisch gegen offen ausgetragene Meinungsverschiedenheiten. Dabei ist es einerlei, ob ihre politischen Ansichten marxistisch oder nationalistisch sind.

Autokratien sind auf dem Vormarsch

Es handelt sich dabei um eine Geisteshaltung, nicht um einen gedanklichen Inhalt. Theorien wie diese übersehen allerdings oft ein weiteres entscheidendes Element beim Niedergang der Demokratie und dem Aufkommen der Autokratie. Anne Applebaum erklärt: „Die bloße Existenz von Menschen mit einer Schwäche für Demagogen oder Diktaturen ist noch keine Erklärung für den Erfolg der Demagogen.“ Diktatoren wollen herrschen, doch wie erreichen sie den empfänglichen Teil der Öffentlichkeit?

Autoritäre Politiker wollen Gerichte unterwandern, um sich selbst mehr Macht zu verschaffen. Aber wie überzeugen sie die Wähler davon, diese Veränderung zu akzeptieren? Im alten Rom ließ Caesar mannigfaltige Büsten von sich anfertigen. Autokraten von heute beauftragen die modernen Pendants der alten Bildhauer. Dazu zählen Autoren, Intellektuelle, Pamphletschreiber, Blogger, Meinungsmacher, Fernsehproduzenten und Memeschöpfer, die der Öffentlichkeit ihr Bild verkaufen. Autokraten brauchen Leute, die Unruhen anzetteln und die Machtübernahme vorbereiten. Quelle: „Die Verlockung des Autoritären“ von Anne Applebaum

Von Hans Klumbies