Die Auslegung der religiösen Quellen lässt viel Spielraum

Es kann große Unterschiede im Sozialverhalten verschiedener Anhänger ein und derselben Religion geben. Selbst auf Gebieten, von denen man vielfach meint, sie hingen eng mit der Religion zusammen. Diese Unterschiede darf man jedoch nicht als bloße Aspekte eines neuen, durch die Moderne in die muslimischen Länder getragenen Phänomens verstehen. Amartya Sen ergänzt: „Der Einfluss anderer Interessen, anderer Identitäten lässt sich in der gesamten Geschichte muslimischer Völker beobachten.“ In der Weltgeschichte sind oftmals die Einstellungen zur religiösen Toleranz gesellschaftlich bedeutsam gewesen. Und unter Muslimen findet man in dieser Beziehung eine große Bandbreite. Muslim zu sein ist keine alles überragende Identität, die alles, woran ein Mensch glaubt, determiniert. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

Maimonides fand in der arabischen Welt Aufnahme

Amartya Sen weiß: „Ein Muslim kann ohne weiteres eine intolerante Haltung gegenüber der Heterodoxie einnehmen und ein anderer eine tolerante, ohne dass der eine oder der andere deshalb aufhört, ein Muslim zu sein.“ Das liegt nicht nur daran, dass die Idee der „ijtehad“, der Auslegung der religiösen Quellen, einen beträchtlichen Spielraum innerhalb des Islam zulässt. Sondern es hat seinen Grund auch darin, dass der einzelne Muslim große Freiheit hat, selbst zu bestimmen, welche sonstigen Werte und Prioritäten er wählt, ohne den grundlegenden islamischen Glauben in Frage zu stellen.

Angesichts der gegenwärtigen Abneigung zwischen arabischen und jüdischen Politikern erinnert Amartya Sen auch an die lange Geschichte der gegenseitigen Hochachtung zwischen den beiden Gruppen. Zum Beispiel wurde der jüdische Philosoph Maimonides im 12. Jahrhundert zur Immigration aus einem intoleranten Europa gezwungen. In der arabischen Welt fand er tolerante Aufnahme. Sein Gastgeber, der ihm an seinem Hof in Kairo eine ehrenvolle und einflussreiche Stellung verschaffte, war kein geringer als Sultan Saladin.

Die religiöse Identität ist nur eine unter vielen

In der arabischen Welt und im mittelalterlichen Spanien war es lange Zeit Praxis der muslimischen Herrscher, die Juden als verlässliche Mitglieder der sozialen Gemeinschaft zu integrieren. Zudem achteten sie ihre Freiheit und respektierten zuweilen sogar ihre führende Rolle. Amartya Sen betont: „Unsere religiöse oder kulturelle Identität mag durchaus sehr wichtig sein, aber sie ist nur eine Mitgliedschaft unter vielen.“ In allen Religionen hat es unter den treuen Anhängern wilde Krieger und großartige Friedenskämpfer gegeben.

Menschen sollten akzeptieren, dass der religiöse Glaube, nicht alle Entscheidungen klärt, die man im Leben zu treffen hat. Nicht zuletzt in Bezug auf ihre politischen und gesellschaftlichen Prioritäten und die damit verbundenen Fragen nach ihrem Verhalten und Handeln. Amartya Sen stellt fest: „Sowohl die Verfechter von Frieden und Toleranz als auch die Anhänger von Krieg und Intoleranz können derselben Religion angehören und wahre Gläubige sein, ohne dass dies als Widerspruch empfunden würde.“ Quelle: „Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt“ von Amartya Sen

Von Hans Klumbies