Lebewesen sind nichtlineare Systeme

Durch eine physikalische Brille betrachtet sind Lebewesen nichtlineare Systeme. Fabian Scheidler erklärt: „Das bedeutet, dass sehr kleine Ursachen sehr große und oft nicht vorhersagbare Wirkungen entfalten können. Nichtlineare Systeme kommen in einfacher Form bereits in der unbelebten Natur vor.“ Der belgische Chemiker Ilya Prigogine hat solche Strukturen seit den 1960er-Jahren systematisch untersucht. Die Luftströmungen der Erdatmosphäre etwa sind nichtlineare Systeme, die sehr empfindlich auf Einflüsse reagieren können. Selbst kleine Temperaturveränderungen können zum Beispiel dazu führen, dass sich Tornados oder Hurrikane bilden. Der Meteorloge und Mitbegründer der Chaostheorie Edward Lorenz prägt dafür den Begriff „Schmetterlingseffekt“. Theoretisch kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Texas einen Tropensturm in Indonesien erzeugen. Der Publizist Fabian Scheidler schreibt seit vielen Jahren über globale Gerechtigkeit.

Das Kippen eines Systems lässt sich nicht vorhersagen

Minimale Unterschiede der Ausgangsbedingungen können also zur Folge haben, dass das System in die eine oder andere Richtung „kippt“. Und dieses Kippen lässt sich nicht exakt vorhersagen. Die Voraussetzung für diese Empfindlichkeit besteht, so Ilya Prigogine, dass sich das System sehr weit von seinem thermodynamischen Gleichgewicht entfernt hat. Damit hat es einen gewissen Grad von Selbstorganisation erreicht. Die Materie beginnt unter gleichgewichtsfernen Bedingungen, Unterschiede in der Außenwelt wahrzunehmen, die sie unter Gleichgewichtsbedingungen nicht spüren konnte. Im Gleichgewicht ist die Materie sozusagen „blind“.

Leben beruht in biochemischer Perspektive, auf der Verknüpfung einer unüberschaubaren Zahl von solchen selbstorganisierenden, gleichgewichtsfernen Prozessen. Fabian Scheidler fügt hinzu: „Und es zeichnet sich entsprechend durch eine besonders hohe Sensibilität aus. Eine winzige Menge Säure etwa löst bei einem Pantoffeltierchen eine panikartige Fluchtbewegung aus.“ Die zarteste Berührung einer Mimose hat zur Folge, dass sie ihre Blätter rasch einklappt. Ein hingeworfener Brotkrümel kann eine große Schar von Spatzen in heftige Bewegung versetzen.

Die Welt der Lebewesen gleicht nicht der Welt der Physik

Das physikalische Ereignis der heruntergefallenen Brotkrume steht in keinem proportionalen Verhältnis zur Wirkung. Die Hand eines Schiedsrichters geht in die Höhe; daraufhin bricht in den Rängen des Stadions ein gewaltiges Gewoge los. Die Welt der Lebewesen gleicht nicht der Welt der Physik. Wenn man einen Stein bewegen will, muss man dazu physische Kraft aufwenden. Und es lassen sich Proportionen zwischen der aufgewendeten Kraft und der Wirkung, die sie hervorbringt, aufstellen.

Fabian Scheidler erläutert: „Wenn ich einen Menschen bewegen will, kann ich das natürlich auch auf physikalische Weise tun, und zwar am einfachsten dann, wen n er tot oder bewusstlos ist. Will ich mir aber dazu beispielsweise einen lebenden Passanten greifen, so werde ich feststellen, dass er auf eine Weise reagiert, die mit den Gesetzen der klassischen Mechanik nicht zu erklären ist.“ Denn es gibt merkwürdige Rückstöße, durch die man seine Bewegung einfach nicht kontrollieren kann. Quelle: „Der Stoff aus dem wir sind“ von Fabian Scheidler

Von Hans Klumbies