Hegel war der letzte Systembauer von Bedeutung

Heute geschieht mit der Philosophie etwas Ähnliches wie früher mit der Tragödie. Ágnes Heller erklärt: „Nach dem Zusammenbruch des hegelschen Systems traten mehrere repräsentative Denker in die Tradition der philosophischen Literaturgattung ein.“ Schon vor Georg Wilhelm Friedrich Hegel haben nicht alle Philosophen Systeme errichtet. Aber nach ihm gab es keine Systembauer von Bedeutung mehr. Was vom traditionellen philosophischen Denken blieb, ist die Trennung der empirischen und der transzendentalen Untersuchungsebene und die Hermeneutik als Interpretation des Anderen. Ágnes Heller, Jahrgang 1929, war Schülerin von Georg Lukács. Ab 1977 lehrte sie als Professorin für Soziologie in Melbourne. 1986 wurde sie Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Ágnes Heller starb am 19. Juli 2019 in Ungarn.

Tragödie ist Drama

Manchmal verwischen sich die Unterschiede zwischen Philosophie und ihrem Interpretandum, da die Hermeneutik an ganz unterschiedlichen Texten und Institutionen als Texten praktiziert wird. Zuerst ersetzte man die Tragödie durch das Trauerspiel und die Tragikomödie. Schlussendlich verwandelte sich die Tragödie ins absurde Theater. Gleichzeitig ersetzte man die ganzheitlichen transparenten philosophischen Systeme durch philosophische Fragmente.

Ágnes Heller fragt: „Sind das wirklich parallele Geschichten?“ Die Tragödie tritt in Zeiten auf, in denen sich eine Welt nicht nur verändert, sondern in denen zwei grundverschiedene Welten – die alte und die neue – aufeinanderprallen. Dieser Zusammenstoß manifestiert sich in menschlichen Konflikten, bei denen Recht und Unrecht auf beiden Seiten liegen. In modernen Tragöden existiert dieser Zusammenhang der beiden Welten nicht nur äußerlich, also in Handlungen, sondern auch innerlich, im Geist, in der Seele der Protagonisten. Tragödie ist Drama.

Die bedeutendsten Tragödien sind in Städten entstanden

Ágnes Heller erläutert: „Es gibt drei notwendige Bestandteile eines Dramas. Nämlich den allgemeinen Zustand der Welt, die Situation und schließlich die Handlung. Doch sind sie in der Tragödie und der Komödie verschieden. William Shakespeare formulierte in Tragödien den Zustand der Welt präzise: „Die Zeit ist aus den Fugen geraten.“ Eine „Zeit aus den Fugen“ ist für Ágnes Heller die erste und notwendige Bedingung der Tragödie. Es sind Zeiten, in denen die Welt zusammenbricht und eine neue Welt entsteht.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel unterscheidet zwischen dem Zustand der Welt und der Situation. Während für Aristoteles das Rückgrat einer Tragödie die Handlung war, ist es für Hegel „die richtige Figur in der richtigen Situation“. Die Tragödie ist auch abhängig von den Bedürfnissen, der Erwartung, der möglichen – nicht tatsächlichen – Lebenserfahrung eines Theaterpublikums. Es liegt auf der Hand, dass die bedeutendsten Tragödien in Städten entstanden sind. Tatsächlich sind es drei: Athen, London und Paris. Quelle: „Vom Ende der Geschichte“ von Ágnes Heller

Von Hans Klumbies