Orte der Versuchung schärfen die Mündigkeit

Die Mündigkeit wächst in Zonen der Verführung und der Rechtsfreiheit. Ulf Poschardt fügt hinzu: „Sie sind selten und in Rechtsstaaten kaum toleriert, aber in Teilen geduldet. Als Freiheitslabore aber sind sie Inkubatoren von Glück, Fortschritt und jeder Menge wunderbarer Sauereien.“ Die Fähigkeit zur Gewissensentscheidung ist eine Voraussetzung für Mündigkeit. Daher sind die Orte der Versuchung eine wichtige Prüfung, um seine Mündigkeit zu schärfen. Als Verfassungspatriot neigt man zu Nulltoleranz gegenüber rechtsfreien Räumen. Den Deutschen, linken wie rechten, ist kein Vorwand zu blöd, um über die Einschränkung von Freiheitsräumen nachzudenken. Im Nachtleben wären mehr Kontrollen tödlich, zumindest für den freien Geist des Nachtlebens, jener Mischung aus Balz, Bordeaux und Petting. Seit 2016 ist Ulf Poschardt Chefredakteur der „Welt-Gruppe“ (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt TV).

Das Nachtleben gibt den Blick in den Abgrund frei

Im Nachtleben geht es nicht nur um Musik und Alkohol, sondern oft genug auch um Sex, Drogen, Unmoralisches, Absurdes. Dieser geduldete Blick in den Abgrund ist nur möglich, weil der Freiheitsraum klar definiert ist. Und weil es Menschen gibt, die den Einlass in die künstlichen Paradiese regulieren. Die Geschichte grandiosen Nachtlebens hat wenig mit Askese und Anstand zu tun, mehr mit einem Freiraum prä- bzw. postbürgerlicher Maßlosigkeit.

Das Nachtleben war und ist hart, versaut, gnadenlos. Das fängt schon damit an, dass in die wichtigsten Clubs nur die Schönen, Reichen und Skurrilen Einlass finden. Die Tür des Clubs ist ein Ort rücksichtsloser Auswahl. Ulf Poschardt weiß: „Wer gut aussieht, ist im Vorteil. Wer jung und hübsch ist, noch mehr. Wer krass und frech ist, kann ebenso profitieren.“ Der reiche alte Mann, dort auch wenig verdienstvollerweise „Sack“ genannt, darf rein, wenn klar ist, dass er bezahlt.

Das Nachtleben folgt schamlos eigenen Gesetzen

Der Türsteher ist eine ordnungspolitische Instanz. Das Reich der Freiheit ist auch eines der Mündigkeit, und es beginnt direkt hinter ihm. Er prüft auch, wer zu dieser Mündigkeit in der Lage sein könnte. Und noch wichtiger: wer diese Mündigkeit der anderen vor eine schwere Probe stellen könnte. Die Mündigkeit nimmt hier Verbindung auf zu jenen archaischen Trieben und Lüsten, sie sie oft genug in ihre Schranken weisen muss. Der Mündige im Nachtleben feiert im Wissen, dass auch ein mündiges Leben von Regression und Libertinage lebt.

Das Nachtleben folgt erfreulich schamlos und unerschrocken eigenen Gesetzen. Es bietet in der Regel einen Freiheitsraum an, in dem Dinge möglich sind, die so in einem öffentlichen Raum undenkbar wären. Je besser der Club, desto härter die Tür. Ulf Poschardt stellt fest: „Das Nachtleben ist politisch eher links verdrahtet. Aber: ein egalitäres Nachtleben ist sinnlos. Anders als in der realen Welt kann sich jeder Mensch im Nachtleben entscheiden, ab heute ein Star zu sein.“ Er muss es dann eben nur bringen. Quelle: „Mündig“ von Ulf Poschardt

Von Hans Klumbies