Identität kann erworben und verdient werden

Es gibt angeblich eine zentrale Bedeutung der Entdeckung „zu wissen, wer man ist“. Der Politiktheoretiker Michael Sandel hat diese Behauptung auf erhellende Weise erklärt: „Gemeinschaft beschreibt nicht nur, was sie als Mitbürger haben, sondern auch, was sie sind. Es handelt sich dabei nicht um eine Beziehung, die sie wählen, sondern um eine Bindung, die sie entdecken. Das ist nicht nur ein Attribut, sondern ein konstituierender Bestandteil ihrer Identität.“ Amartya Sen weiß: „Die Entdeckung, wo wir stehen, ist jedoch nicht der einzige Weg zu einer bereichernden Identität. Diese kann auch erworben und verdient werden.“ Menschen sind nicht in ihre vorgefundenen Standorte und Zugehörigkeiten eingesperrt. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

Jeder Mensch hat verschiedene Identitäten

Menschen identifizieren sich auch innerhalb ihrer vorgefundenen Standorte auf unterschiedliche Weise. Das in vielen Fällen recht starke Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft muss nicht andere Zusammenschlüsse und Zugehörigkeiten zunichte machen oder unter sich begraben. Mit diesen Alternativen ist man ständig konfrontiert. Der tiefe Ernst der disparaten Anziehungskräfte muss man gebührend anerkennen. Und sie dürfen nicht alle in der zielstrebigen Feier allein der Gemeinschaft untergehen.

Der strittige Punkt ist für Amartya Sen nicht, ob man eine beliebige Identität wählen kann, denn das zu behaupten wäre absurd. Sondern es geht darum, ob man tatsächlich zwischen alternativen Identitäten oder Kombinationen von Identitäten wählen kann. Noch wichtiger ist es, ob man frei ist hinsichtlich der Priorität, die man seinen verschiedenen Identitäten gibt. Ein Mensch kann etwas sehr wichtiges über sich entdeckt. Dennoch gibt es immer noch Fragen, in denen er sich entscheiden muss.

Das Leben ist nicht bloß Schicksal

Amartya Sen betont: „Wichtige Entscheidungen müssen auch dann getroffen werden, wenn man bedeutsame Entdeckungen gemacht hat. Das Leben ist nicht bloß Schicksal.“ Die Theorie vom Kampf der Kulturen, die Samuel Huntington in seinem berühmten Buch eindringlich vorträgt, hat starkes Interesse gefunden. Namentlich die Theorie vom Kampf zwischen der „westlichen“ und der „islamischen“ Welt ist vielfach beschworen worden. Mit der Theorie vom Kampf der Kulturen gibt es jedoch verschiedene Schwierigkeiten.

Die erste und vermutlich grundlegende hat laut Amartya Sen damit zu tun, ob es praktisch überhaupt möglich und signifikant ist, Menschen nach den Kulturen zu klassifizieren, denen sie angeblich „angehören“. Wenn am Menschen vorrangig als Angehörige einer Kultur betrachtet, dann reduziert man sie bereit auf diese eine Dimension. Die Aufteilung in Kulturen drängt sich überall in die Gesellschaftsanalyse ein und unterdrückt andere, ergiebigere Betrachtungsweisen. Quelle: „Die Identitätsfalle“ von Amartya Sen

Von Hans Klumbies