Die Identität braucht das Wechselspiel zwischen Anerkennung und Ablehnung

Ein Mensch hat nur dann eine Chance, eine eigene Identität zu entwickeln, wenn er nicht permanent Ablehnung erfährt. Thea Dorn ergänzt: „Wem von seiner Umwelt ununterbrochen signalisiert wird, er sei minderwertig oder gar abartig, kämpft in der Tat auf verlorenem Posten.“ Allerdings kann man auch zu Tode anerkannt werden. Was meint Thea Dorn damit? Sie will damit sagen, dass sich eine Identität nur schärfen kann, wenn derjenige, der herausfinden möchte, wer er ist und wer er sein will, auch Widerstand und Ablehnung erfährt. Individuelle Konturen entstehen nur im Wechselspiel von Anerkennung und Ablehnung, von Unterstützung und Widerstand, von Gelingen und Scheitern. Allerdings mag bis zum heutigen Tage niemand abschließend zu erklären, warum es manchen Menschen besser gelingt als anderen, Beleidigungen und seelische Verletzungen wegzustecken. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

Platon fordert: „Erkenne Dich selbst!“

Am Anfang des abendländischen philosophischen Nachdenkens des Menschen über sich selbst steht das „Gnothi seauton“, das am Apollotempel in Delphi prangte, die Aufforderung: „Erkenne Dich selbst!“ Wenn Platon diese Aufforderung zu einem wesentlichen Bestandteil seiner Seelen- und Tugendlehre erhebt, meint er damit nicht, seine Mitbürger der Polis sollten sich schlicht klarmachen, welchem sozialen Stand und welchem Geschlecht sie angehören, und damit seien alle weiteren Fragen beantwortet.

Im Gegenteil. Gerade in dieser undurchlässigen, festgefügten sozialen Welt ermahnte der Philosoph seine Zeitgenossen, sich niemals allzu sicher zu sein, ein Bewusstsein des eigenen Nichtwissens, ein Gespür für die eigene Unzulänglichkeit zu entwickeln. Aus diesem Grunde ende fast alle sokratischen Dialoge in der „Aporie“, mit der Feststellung, dass man es mit einem Problem zu tun hat, auf das es keine eindeutige Antwort gibt. Dennoch wusste Sokrates um seine eigene Identität sehr gut Bescheid.

Der ewige Wandel ist das Grundprinzip jeglichen Seins

Für Sokrates war es richtiger, den Schierlingsbecher zu trinken, zu dem ihn das Gericht der Athener wegen angeblicher „Gottlosigkeit“ und „Verführung der Jugend“ verdammt hatte, als sich dem Todesurteil durch Flucht zu entziehen. Heute ist alles im Fluss. Gleichwohl erinnert Thea Dorn daran, dass bereits der Vorsokratiker Heraklit, der im ewigen Wandel das Grundprinzip jeglichen Seins erkannte, ebenso feststellte: „Allen Menschen ist es gegeben, sich selbst zu erkennen und vernünftig zu sein.“

Niemand, der keinerlei Vorstellung davon hat, wen er meint, wenn er „Ich“ sagt, kann ein einigermaßen stimmiges, geschweige denn selbstbestimmtes Leben führen. Jeder, der glaubt, ein für alle Mal zu wissen, wen er meint, wenn er „Ich“ sagt, macht sich etwas vor. Der Mensch ist lebenslänglich dazu verdammt, nach einer Identität zu streben, doch sollte er sich hüten zu hoffen, diese Identität ließe sich jemals besitzen wie ein Pokal, den er in der heimischen Vitrine verwahren und stolz zur Schau stellen kann. Quelle: „deutsch, nicht dumpf“ von Thea Dorn

Von Hans Klumbies