Im Antlitz zeigt sich die Unendlichkeit des anderen

Für Sonja Flaßpöhler gibt ein fundamentales erkenntnistheoretisches Problem: „So sehr wir einen anderen Menschen verstehen wollen, bleiben wir doch in unserem Bewusstseinsraum eingeschlossen. Dabei reduzieren wir das Gegenüber auf die Logik des Selben.“ Es war der Philosoph Emmanuel Lévinas, der am deutlichsten auf diese Grenze des Verstehens hingewiesen hat. Nämlich eine Grenze, die sich manifestiert im „Antlitz“ des Anderen: „Das Antlitz entzieht sich dem Besitz, meinem Vermögen. In seiner Epiphanie im Ausdruck, wandelt sich das Sinnliche, das eben noch fassbar war, in vollständigen Widerstand gegen den Zugriff.“ Was sich im Antlitz, so Emmanuel Lévinas, zeigt, ist die Unendlichkeit des anderen. Seine absolute Andersheit, die sich durch keinerlei Kategorien des Verstandes einhegen lässt. Dr. Svenja Flaßpöhler ist Stellvertretende Chefredakteurin des Philosophie Magazins.

Der Mordimpuls ist ein narzisstischer Wunsch

Wer einem anderen Menschen in die Augen blickt, ertrinkt nachgerade in dieser Unendlichkeit. Er stürzt in einen See ohne Grund. Emmanuel Lévinas beschreibt das Verhältnis zum Anderen als ein höchst widersprüchliches. Es schwankt gefährlich zwischen Tötungslust und Ehrfurcht. Was sich dem Begreifen entzieht, reizt einerseits zur Vernichtung: „Töten ist nicht Beherrschen, sondern Vernichten, der absolute Verzicht auf das Verstehen. (…) Die Andersheit, die sich im Antlitz ausdrückt, liefert die einzig mögliche Materie für die totale Negation.“

Der Mordimpuls ist Ausdruck des narzisstischen Wunsches, es gäbe kein unzugängliches Reich jenseits des Ich. Lieber den Anderen auslöschen, als ihn nicht zu verstehen. Anderseits ist es gerade die Unendlichkeit des Gegenübers, seine Nichtreduzierbarkeit auf ein analysierbares Objekt, das das Töten verbietet: „Diese Unendlichkeit, die stärker ist als der Mord, widersteht uns schon in seinem Antlitz, ist sein Antlitz, ist der ursprüngliche Ausdruck, ist das erste Wort: >Du wirst keinen Mord begehen<.“

Es gibt kein Sein jenseits und unabhängig vom Anderen

In diesem Satz zeigt sich für Emmanuel Lévinas die Erfahrung eines ethischen Widerstandes. Dieser leuchtet im Antlitz des Anderen auf, durch die vollständige Blöße seiner Augen ohne Verteidigung. Paradoxerweise ist es also gerade die radikale Nichtverstehbarkeit des Anderen, die ein tiefes Gefühl der Empathie stiftet. Und doch die Mordlust als Abgrund notwendig in sich trägt. Wem die radikale Andersheit des Anderen bewusst ist, weiß: „Ich bin nicht das Maß aller Dinge. Ich messe den anderen nicht an mir und meinen Ansprüchen, meinen Vorstellungen von gut und böse. Oder an vermeintlich allgemeinen Eigenschaften der Gattung und so weiter.

Svenja Flaßpöhler erklärt: „Die Begegnung mit dem radikal Anderen holt mich aus meiner trügerischen wie tragischen Selbstbezüglichkeit heraus, befreit mich vom Gewicht des Egoismus und setzt an seine Stelle eine Moralität der Güte, in der sich der Andere als absolut Anderer ereignen kann.“ Gütig sein heißt, den Anderen nicht von der vermeintlich unanfechtbaren Position des eigenen Seins her zu erfassen. Emmanuel Lévinas meint, dass es das Sein überhaupt nicht jenseits und unabhängig vom Anderen gibt. Quelle: „Verzeihen“ von Svenja Flaßpöhler

Von Hans Klumbies