Die Zeit ist elastisch

In der persönlichen Erfahrung eines Menschen ist die Zeit elastisch. Stunden verfliegen wie Minuten, und Minuten vergehen bedrückend langsam als gefühlte Jahrhunderte. Die Vorstellung, wonach Zeit überall gleich schnell vergeht, haben die Menschen gewiss nicht aus ihrer unmittelbaren Erfahrung geschöpft. Woher stammt sie dann? Carlo Rovelli erklärt: „Seit Jahrhunderten unterteilen wir die Zeit in Tage. Das lateinische Wort „Tempus“ für „Zeit“ geht auf die indoeuropäischen Wurzeln „di“ oder „dai“ für „teilen“ zurück. Und seit Jahrhunderten unterteilen wir die Tage in Stunden.“ Aber die Stunden waren die meiste Zeit in diesen Jahrhunderten im Sommer länger als im Winter, weil diese im Zwölferpack den Zeitraum vom Tagesanbruch bis zum Sonnenuntergang unterteilten. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik in Marseille.

Die einheitlichen Zeit ist eine moderne Vorstellung

Sonnen-, Sand- und Wasseruhren waren zwar schon in der antiken Welt, im Mittelmeerraum oder in China, bekannt, spielten aber nicht die Rolle der heutigen Zeitmesser, die das Leben der Menschen organisieren. Erst ab dem 13. Jahrhundert begannen mechanische Uhren den Tagesablauf der Menschen zu regeln. Städte und Dörfer errichteten Kirchen mit Glockenturm, mit einer Uhr ausgestattet, die dem kollektiven Tagesablauf den Rhythmus vorgab. Die Ära der von Uhren geregelten Zeit brach an.

Uhren sind dann nützlich, wenn sie einheitlich dieselbe Zeit anzeigen. Aber diese Vorstellung ist moderner als man meint. Über Jahrhunderte bestand keinerlei Grund, die Uhren an verschiedenen Orten aufeinander abzustimmen. Vielmehr war das Gegenteil der Fall: Zur Mittagszeit steht die Sonne per definitionem am höchsten am Himmel. In den Städten und Dörfern sorgte eine Sonnenuhr dafür, dass die für alle sichtbare mechanische Uhr am Glockenturm nach diesem Zeitpunkt gestellt werden konnte. Aber weil die Sonne von Osten nach Westen wandert, erreicht sie in Lecce, Venedig, Florenz oder Turin ihren Höchststand zu unterschiedlichen Zeiten.

Die Welt wird in Zeitzonen eingeteilt

Im 19. Jahrhundert wird der Telegraph eingeführt. Züge bringen Reisende schnell an ihr Ziel. Das Problem, die Uhren der Städte richtig aufeinander abzustimmen, gewinnt große Bedeutung. Carlo Rovelli erläutert: „Fahrpläne zu erstellen, ist mühselig, wenn jeder Bahnhof seine eigene Zeit hat. Als erstes Land versuche die Vereinigten Staaten, die Uhrzeit zu standardisieren.“ Ein erster Vorschlag lautet, eine universelle Zeit für die gesamte Erde festzulegen. Die Idee stößt auf Ablehnung, da die Menschen an ihrer Ortszeit hängen.

Ein Kompromiss wird 1883 mit dem Plan erreicht, die Welt in Zonen aufzuteilen und die Zeit nur jeweils innerhalb von diesen zu vereinheitlichen. Dieser Vorschlag findet nach und nach in der ganzen Welt Akzeptanz: Die verschiedenen Städte beginnen ihre Uhren aufeinander abzustimmen. Vor dem Zeitalter der Uhren stellte für die Menschheit über Jahrtausende der Wechsel zwischen Tag und Nacht das einzige Maß zur Regulierung der Zeit dar. Er bestimmte auch das Leben von Tieren und Pflanzen. Tagesrhythmen sind in der lebendigen Welt allgegenwärtig. Quelle: „Die Ordnung der Zeit“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies