Stendhal versuchte sich in seinen Schriften über die Liebe über jene Leidenschaft klar zu werden, deren aufrichtige Äußerungen stets das Merkmal der Schönheit tragen. Der Philosoph und Schriftsteller unterscheidet vier verschiedene Arten der Liebe. Als erstes nennt er die Liebe aus Leidenschaft, zu der er die Liebe der portugiesischen Nonne, die Liebe der Heloïse zu Abaelard zählt. An die zweite Stelle setzt Stendhal die Liebe aus Neigung, die in Paris um 1760 Mode war. Man findet sie in den Romanen und Memoiren jener Zeit, bei Crébillon, Lauzun, Cuclos, Marmontel, Chamfort, Frau von Epinay und anderen mehr.
Die Liebe aus Neigung, aus Sinnlichkeit und aus Eitelkeit
Die Liebe aus Neigung gleicht einem Gemälde, auf dem alles, auch die Schatten, rosenfarbig sein muss, auf dem sich unter keinen Umständen irgendetwas Hässliches zeigen darf, wenn es nicht gegen Lebensart, guten Ton und Zartgefühl verstoßen will. Da in ihr keine Leidenschaft und nichts Unerwartetes mitspielt, hat sie oft mehr Zartgefühl als die wahre Liebe, denn sie ist großen Teils verstandesmäßig. An dritter Stelle nennt Stendhal die Liebe aus Sinnlichkeit. Sie erblüht, wenn man auf der Jagd einem hübschen frischen Bauernmädchen begegnet, das sich in den Wald flüchtet. Solche Liebesfreuden kennt jeder. So nüchtern und unglücklich ein Mensch ist, auf diese Weise fängt man mit sechzehn Jahren an.
Als vierte Form der Liebe beschreibt Stendhal die Liebe aus Eitelkeit. Die überwiegende Mehrzahl der Männer, besonders in Frankreich, begehrt und besitzt eine elegante Frau, wie man sich ein hübsches Pferd hält, als etwas, das zum Luxus eines jungen Mannes gehört. Die mehr oder weniger geschmeichelte oder gereizte Eitelkeit erregt Liebeswallungen. Bisweilen tritt die sinnliche Liebe hinzu, aber nicht immer; oft fehlt sogar der sinnliche Genuss.
Im günstigsten Fall erhöht sich bei dieser oberflächlichen Beziehung das sinnliche Vergnügen durch die Gewohnheit. In der Erinnerung gleicht sie dann ein wenig der wahren Liebe. In der Liebe aus Eitelkeit erzeugt manchmal die Gewohnheit oder die Aussichtslosigkeit etwas Besseres zu finden, eine Art Freundschaft, die am wenigsten Achtbare von allen, denn sie prahlt mit Beständigkeit.
Die Unsterblichkeit der irdischen Liebe
Die Sinnlichkeit ist für Stendhal etwas Natürliches. Jeder Mensch kennt sie, aber in den Augen zärtlicher und leidenschaftlicher Seelen ist sie nur von untergeordnetem Wert. Manche tugendhaften und zartfühlenden Frauen haben fast gar keinen Begriff von Sinnengenuss. Sie finden, wenn man so sagen darf, so selten Gelegenheit dazu, und selbst dann erstickt der Überschwang ihrer Leidenschaft fast stets die körperliche Lust.
Stendhal räumt ein, dass man statt vier verschiedener Arten von Liebe auch acht bis zehn Abarten unterscheiden könnte. Es gibt bei den Menschen wohl ebensoviel Arten zu fühlen wie zu sehen. Jede Art der irdischen Liebe lebt und stirbt oder erhebt sich zu Unsterblichkeit nach den gleichen Gesetzen.
Von Hans Klumbies