Der Verstand kann Großartiges leisten

„Die Akte des weißen Entdeckers“ nennt der amerikanische Anthropologe Joseph Henrich seine gesammelten Geschichten von Menschen, die sich weitab aller Zivilisation durchschlagen mussten. Meist handelte es sich dabei um europäische Schiffbrüchige. Diese strandeten in einer fremden Umgebung und mussten dort ohne Aussicht auf Rettung ausharren. Stefan Klein fügt hinzu: „Manche fanden sich allein in ihrer Notlage, andere in Gemeinschaft von Leidensgenossen. Aber jede Hilfe war fern. Jetzt hing das Überleben nur noch vom Glück ab – und von guten Einfällen.“ Das Ringen der Verschollenen zeigt, was der Verstand eines Menschen leisten kann. Vor allem, wenn er ohne jede Unterstützung und Anregung von außen eine unbekannte Situation bewältigen muss. Stefan Klein zählt zu den erfolgreichsten Wissenschaftsautoren der deutschen Sprache. Er studierte Physik und analytische Philosophie in München, Grenoble und Freiburg.

Echte Robinsonaden enden oft in Katastrophen

So geben die Geschichten Aufschluss über die schöpferischen Talente. Und auch Antworten auf die Frage, was die geistige Revolution ausgelöst hat, die vor rund 50.000 Jahren die Fundamente der heutigen Zivilisation legte. Eine fiktive Begebenheit dieser Art erzählte Daniel Defoe in seinem berühmten Abenteuerroman „Robinson Crusoe“. Durch Schiffbruch verschlägt es den Helden auf eine einsame Insel, wo er sich eine Existenz aufzubauen beginnt. Nur auf sich gestellt findet Robinson Crusoe heraus, wie man Reis und Gerste anbaut.

Er lernt zu jagen, stellt sich Kleidung aus dem Fell wilder Ziegen her und töpfert sogar Keramik. So entwickelt er seine eigene Kultur, bis er nach Jahren von einem Ureinwohner namens Freitag Unterstützung erhält. Schließlich wird Robinson Crusoe gerettet. Die wahren Berichte des Anthropologen Joseph Henrich lesen sich weniger rosig. Wie echte Robinsonaden verlaufen, erfuhr beispielsweise der britische Admiral Sir John Franklin mit seiner Expedition.

Keiner überlebte John Franklins Expedition

Dabei handelte es sich nicht um irgendein Unternehmen. Mit zwei hochmodernen, dampfbetriebenen Schiffen und einer handverlesenen Besatzung von 133 Mann brach John Franklin 1845 auf. Er wollte die Nordwestpassage zwischen Neufundland und dem Pazifik finden. An Bord befanden sich Vorräte für drei Jahre, 4.200 Liter Zitronensaft zur Vorbeugung gegen Skorbut sowie die besten Navigationsgeräte seiner Zeit. Auch war John Franklin nicht irgendein Kommandant. Seit er zwei frühere, mehrjährige Entdeckungsfahrten hinter sich gebracht hatte, genoss er den Ruf, die Arktis besser als jeder andere zu kennen.

Da die Suche nach der Nordwestpassage kaum in einer Saison zu bewältigen war, plante John Franklin, mit seinen beiden Schiffen HMS Erebus und HMS Terror im Packeis zu überwintern. Den ersten Winter im Packeis brachten die Männer wie vorgesehen hinter sich. Im darauffolgenden Sommer allerdings erreichte John Franklin nicht die offene See. Im Herbst saß er mit seinen Schiffen erneut im Eis fest. Der Kapitän befahl, die Schiffe aufzugeben und den Sommer zu nutzen, um zu Fuß nach Süden zu ziehen. Keiner von ihnen überlebte die Wanderung über das Eis in der Arktis. Quelle: „Wie wir die Welt verändern“ von Stefan Klein

Von Hans Klumbies