Überzeugungen sind nicht sehr rational

Alle Menschen sind irrational – auch die, die von ihrer Rationalität überzeugt sind. Der Neurologe, Psychiater und Hirnforscher Philipp Sterzer erklärt in seinem Buch „Die Illusion der Vernunft“, warum das so ist und welche Schlüsse man daraus ziehen kann. Der Autor beschäftigt sich schon lange mit der Frage, wie Überzeugungen entstehen. Dabei hat er Erstaunliches herausgefunden: Überzeugungen sind viel weniger rational, als man bisher geglaubt hat. Das menschliche Gehirn baut Welten, die richtig und vernünftig erscheinen. Tatsächlich ist die Wahrnehmung eines Menschen Fantasie, die mal mehr, mal weniger mit der Welt da draußen übereinstimmt. Überzeugungen implizieren also Irrationalität und manchmal auch Verrücktheit. Im Jahr 2011 berief man Philipp Sterzer zum Professor für Psychiatrie und computationale Neurowissenschaften an die Charité in Berlin. 2022 wechselte er an die Universität Basel.

Das Bild der Welt entsteht im Gehirn

Philipp Sterzer schreibt: „Wir alle machen uns unser eigenes Bild von der Welt, doch dieses Bild hängt nicht nur von unseren Wünschen und Bedürfnissen ab.“ Wie man die Welt um sich herum wahrnimmt, ist tatsächlich eine sehr individuelle Angelegenheit. Das Bild der Welt entsteht im Kopf, genauer gesagt im Gehirn. Aus den verfügbaren Sinnesdaten eine Wahrnehmung zu konstruieren, das ist genau das, was das Gehirn die ganze Zeit macht, ohne dass das einem Menschen bewusst ist.

Denn das Gehirn gelangt dabei meistens zu einer eindeutigen und stabilen Lösung. Dass das Gehirn die Wahrnehmung eines Menschen überhaupt konstruieren muss, liegt daran, dass es keinen direkten Zugang zur Außenwelt hat. Es muss sich daher einen Reim auf die Signale machen, die es von den Sinnesorganen geliefert bekommt. Das Gehirn muss im Laufe der Entwicklung eines Menschen lernen, welche Ereignisse da draußen sie Signale auslösen. Nur so kann es Wahrnehmungen konstruieren und diese Theorien einordnen, in Meinungen und Überzeugungen darüber, wie die Welt beschaffen ist und wie die Ereignisse in dieser Welt zusammenhängen.

Gespräche mit Andersdenkenden können sich lohnen

Philipp Sterzer argumentiert in seinem Buch „Die Illusion der Vernunft“, dass eine einfache Einordnung von Überzeugungen in dichotome Kategorien wie „normal“ und „verrückt“ weder theoretisch noch empirisch haltbar ist. Die dichotome Kategorisierung von Überzeugungen mag vieles einfacher erscheinen lassen. Was sie aber erschwert, ist das Zusammenleben in der Gesellschaft. Das Verständnis von Überzeugungen als Hypothesen und damit die Akzeptanz der Unmöglichkeit absoluter Gewissheiten sind eine wichtige Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben in pluralen Gesellschaften.

Was Philipp Sterzer unter anderem vermitteln möchte, ist, dass es nicht aussichtslos ist, mit Andersdenkenden zu reden. Ihm ist jedoch auch klar, dass sich gerade rechtspopulistische Meinungsmache aus Prinzip der rationalen Argumentation entzieht. Dennoch möchte der Autor dazu ermuntern, das Gespräch zu suchen, immer wieder. Das sollte mit Offenheit und echtem Interesse geschehen, aber auch mit der gebotenen Klarheit und Standhaftigkeit. Selbst wenn kein konstruktiver Dialog gelingt, den Versuch ist es allemal wert.

Die Illusion der Vernunft
Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten
Philipp Sterzer
Verlag: Ullstein
Gebundene Ausgabe: 317 Seiten, Auflage: 2022
ISBN: 978-3-550-20132-5, 23,99 Euro

Von Hans Klumbies