Bei der Selbstverteidigung gibt es das Problem der Ungleichheit

Viele der Linken behaupten zwar, an Gewaltlosigkeit zu glauben. Dennoch nehmen sie für die Selbstverteidigung eine Ausnahme in Anspruch. Manche Menschen meinen, dass das eine Selbst verteidigungswürdig ist, das andere aber nicht. Damit stellt sich für Judith Butler das Problem der Ungleichheit, dass sich aus der Rechtfertigung von Gewalt im Dienst der Selbstverteidigung ergibt. Leben zählen in dem Sinn, dass sie in der Sphäre der Erscheinung physisch Gestalt annehmen. Sie zählen auch deswegen, weil sie alle gleich geschätzt werden müssen. Und doch ist die Berufung auf Selbstverteidigung vonseiten derjenigen, die Macht ausüben, allzu oft nichts anderes als die Verteidigung dieser Macht. Gleichzeitig beanspruchen sie damit ihre Vorrechte und die von ihnen vorausgesetzten und geschaffenen Ungleichheiten. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

Gewalt kann taktisch erforderlich sein

Das in diesen Fällen verteidigte Selbst ist ein Selbst, das sich mit anderen identifiziert. Zum Beispiel mit anderen, die weiß sind, einer bestimmten Nation oder einer Partei in einem bestimmten Grenzstreit angehören. Judith Butler stellt fest: „So fördert Selbstverteidigung den Krieg.“ Obwohl man sich Selbstverteidigung als Reaktion auf einen Schlag von außen denkt, benötigt das privilegierte Selbst gar keinen solchen Antrieb, um seine Grenzen zu ziehen und seine Ausschlüsse durchzusetzen.

Jede mögliche Bedrohung genügt schon, um ohne Weiteres Gewalt anzuwenden. Die Philosophin Elsa Dorlin hat darauf hingewiesen, dass nicht jedem Selbst das Recht auf Selbstverteidigung zugestanden wird. Eines der stärksten Argumente der Linken für den Einsatz von Gewalt lautet, dass Gewalt taktisch erforderlich ist, um struktureller oder systemischer Gewalt wirksam zu begegnen. Oder um gewalttätige Regime wie das Apartheid-Regime, Diktaturen oder totalitäre Regime zu überwinden.

Gewalt ist eine Frage der Interpretation

Hier und da wird zugunsten der Gewalt argumentiert, dass sie nur ein Mittel ist, um einen anderen Zweck zu erreichen. Es muss dabei Klarheit darüber herrschen, an welchem Punkt man das gewaltsame Handeln beendet. Den Begriff „Gewalt“ verwendet man zur Beschreibung ganz unterschiedlich interpretierter Situationen. Daraus folgt, dass Gewalt schon immer eine Frage der Interpretation war. Gewalt unterliegt in dem Sinne der Interpretation, dass sie innerhalb manchmal unvereinbarer oder gegensätzlicher Rahmensetzungen erscheint.

Gewaltlosigkeit wird sehr oft auch als moralische Haltung verstanden. Nämlich als Frage des individuellen Gewissens oder der Beweggründe für eine individuelle Entscheidung gegen gewaltsames Handeln. Judith Butler weiß: „Wenn jemand zu Gewalt greift, gibt er nicht einfach sein Gewissen oder seine tiefsten Überzeugungen auf.“ Vielmehr gefährdet Gewalt bestimmte für das Zusammenleben sozialer Wesen erforderliche Bindungen. Die Argumentation gegen Gewalt beinhaltet nicht nur eine Kritik des Individualismus, sondern auch eine Klärung der sozialen Bindungen oder Bezüge, die Gewaltlosigkeit verlangen. Quelle: „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ von Judith Butler

Von Hans Klumbies