Sokrates verführte Bürger zur Philosophie

Sokrates wendet sich nicht im Namen einer vermeintlich höheren Wahrheit von den gewöhnlichen Sterblichen und ihren Meinungen ab. Sondern er legt in den Meinungen selbst ein Wahrheitspotenzial frei. Juliane Rebentisch weiß: „Seine Mäeutik, die sokratische Hebammenkunst, zwingt die Gegenüber im Gespräch dazu, ihre Meinungen im Spiegel anderer möglicher Sichtweisen zu betrachten und so auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.“ Eben darin war Sokrates skandalös: dass er die gewöhnlichen Bürger zur Philosophie verführte. Mit dem Ergebnis, dass sich die „unbedarfte Sittlichkeit Athens“ zersetzte. So nannte Hegel das vorkritische Verhältnis der Athener zu den geltenden Gesetzen und Geboten. In seinen Augen ist das sokratische Prinzip jedoch von einem entscheidenden Mangel gekennzeichnet. Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main.

Mit Platon beginnt die philosophische Wissenschaft

So helfe die Gesprächsführung des Sokrates zwar dabei, Vorurteile infrage zu stellen, und motiviere zum ernsthaften Nachdenken. Jedoch führe sie nicht auf das positive Resultat einer neuen Wahrheit, wie dies ein ordentliches philosophisches System beanspruchen müsse. Für Hegel beginnt deshalb auch erst mit Platon die „philosophische Wissenschaft als Wissenschaft“. Auch Hannah Arendt bemerkt, dass es nach all dem, was wir von der Wirkung des Sokrates wissen, offensichtlich ist, dass viele seiner Zuhörer nicht mit einer wahrhaftigeren Meinung nach Hause gegangen sind. Sondern mit gar keiner.

Das Projekt des Sokrates ist jedoch ebenso philosophisch wie politisch. Denn die „Bürger wahrhaftiger zu machen“ bedeutet, die „doxai zu verbessern, die Meinungen, welche das politische Leben bildeten, an dem Sokrates teilnahm. Juliane Rebentisch erklärt: „Die doxa, die Meinung, bezieht sich auf das, was „mir scheint“, sie erfasst die Welt, wie sie sich dem Einzelnen – in seiner beschränkten Perspektive – darbietet.“ Sie ist darin weder einfach willkürlich noch etwas Absolutes und Allgemeingültiges.

Der Denkende muss sich selbst eine Meinung bilden

Wahrheitsfähig, als „besser“, wird sie jedoch erst in dem Moment, in dem die Bürger, die sie vertreten, wahrhaftig werden. In dem Moment also, in dem sie in ein reflektiertes Verhältnis zu ihren Meinungen treten. Denn diese Form der Reflexion speist sich aus der Erfahrung, dass die Welt anderen anders erscheint. Und dass die Wahrheit der doxa sich deshalb einzig in der Übereinstimmung der verschiedenen Perspektiven zeigen kann. Die „Signatur dieser Pluralität“ zeigt sich daher nicht zuletzt im denkenden Selbstgespräch.

Der Denkende, so Hannah Arendt, zwar gar nicht umhin, sich selbst eine Meinung, also eine eigene doxa zu bilden. Juliane Rebentisch fügt hinzu: „Auch eine solche in der Einsamkeit des prüfenden Selbstgesprächs entwickelte doxa aber kann niemals einen abschließenden Wahrheitsanspruch erheben.“ Vielmehr ist die Wahrhaftigkeit denkender Selbstkritik die Voraussetzung einer funktionierenden politischen Öffentlichkeit, in der sich deren Resultate aufs Neue erst als wahrhaftig zu erweisen haben. Quelle: „Der Streit um Pluralität“ von Juliane Rebentisch

Von Hans Klumbies