Die Vergangenheit ist nie tot

Gesellschaften brauchen ihre Geschichte. Sie gibt dem Relief des Lebens seine Tiefe. Sie ist ihr Resonanzraum. Richard David Precht erläutert: „Das Gewordene kann sich nur als da, was es ist, erkennen, indem es weiß, woraus es geworden ist. Menschen sind Bewohner dreier Zeiträume: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ Insofern ist das Vergangene nie tot, ja, es ist nicht einmal vergangen – jedenfalls nicht, solange es in den Köpfen von Menschen gegenwärtig ist. Und die Zukunft ist nie ein Versprechen an sich, sondern sie ist es immer nur im Horizont einer Gegenwart, deren Sorgen sie lindert. Die Nöte und Notwendigkeiten des menschlichen Lebens folgen nicht dem Schema von Problem und Lösung. Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Menschen schätzen ihre Erfahrungen

Fast alles, was einem Menschen im Leben wert und wichtig ist, ist weder ein Problem noch die Lösung desselben. Jeder Mensch hat seine Wiedersprüche und Eigenheiten, seine unverarbeiteten Erfahrungen und seine schillernden Erinnerungen. Seine Niederlagen verschwinden nicht dadurch, dass jemand Lösungen für sie anbietet. Und keine Zukunft bricht an, die nicht getränkt wäre von lieb gewordener und durchlittener, abgestreifter und mitgeschleppter Vergangenheit.

Richard David Precht schreibt: „Menschen lieben das, was sie sind, oft mehr, als sie selbst wissen. Sie schätzen ihre Erfahrungen, eben weil es ihre Erfahrungen sind. Denn was sind wir im Alter anderes, als unsere eigene Geschichte.“ Kein Wunder, dass Menschen Erschütterungen und Umbrüche – Disruptionen eben – nur selten oder einzig dann schätzen, wenn sie sich einen unmittelbaren Vorteil davon versprechen. Normalerweise hingegen mögen sie es sehr, in Raum und Zeit den festen Boden von Traditionen, Überlieferungen, Gewohnheiten und Fortsetzbarem zu spüren.

Viele Ängste sind einfach nicht nur irrational

Die Dimensionen verschieben sich derzeit äußerst rasch. Millionen Menschen drängen von anderen Kontinenten nach Europa oder in die USA. Dies ist gepaart mit einer enormen Beschleunigung der Zeit, die alles was gestern galt, scheinbar hinfällig macht. Dadurch entsteht bei vielen Menschen Angst, die nicht einfach nur irrational ist. Viele Ängste des Menschen mögen zwar im Wortsinne nicht rational sein, sondern eben emotional. Aber sie sind durchaus vernünftig. Ängste sichern das menschliche Überleben seit den Anfängen der Menschheit.

Ein Dach über dem Kopf, ein überschaubares Terrain und Lebensvorgänge, die ein Mensch deuten und verstehen kann, sind biologisch wichtig und damit auch psychologisch. Richard David Precht stellt fest: „In einer Wirtschaftsform, die allen Raum auf unserem Planeten entgrenzt, Kulturen im Eiltempo entwurzelt, Tradition durch Neues ersetzt, flache Gesellschaften in Arm und Reich spaltet und überall Bedürfnisse und Bedarf weckt, sind solche Seelenheimaten belanglos.“ Quelle: „Jäger, Hirten, Kritiker“ von Richard David Precht

Von Hans Klumbies