Carlo Rovelli sucht den Ursprung der Zeit

Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit. Zum Beispiel eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten. Es gibt eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen, eine Zeit zum Weinen und eine Zeit für den Tanz. Carlo Rovelli erläutert: „Bis hierher war die Zeit, die Zeit zu zerstören. Jetzt ist es an der Zeit, die Zeit unserer Erfahrung wieder aufzubauen. Nach ihren Ursprüngen zu suchen, zu verstehen, woher sie kommt.“ Wenn in der elementaren Dynamik der Welt sämtliche Variablen gleichwertig sind, was ist dann das, was die Menschen „Zeit“ nennen? Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

In der Nähe verschwimmen alle Dinge der Welt

Was misst die Uhr? Was läuft immer vorwärts, aber niemals rückwärts ab und warum? Auch wenn es nicht im elementaren Regelwerk der Welt vorkommt, wollen die Menschen trotzdem wissen was es ist. Vieles gehört nicht zur Grundgrammatik der Welt und „taucht“ einfach „auf“. Eine Katze gehört zum Beispiel nicht zu den elementaren Bestandteilen des Universums. Sie ist etwas Komplexes, das „auftaucht“ und sich an verschiedenen Orten des Planeten Erde wiederholt.

Woher kommt das so vertraute „Oben“ und „Unten“, das in den elementaren Gleichungen der Welt fehlt? Von der nahen Erde, die auf die Menschen eine Anziehungskraft ausübt. Das „Oben“ und „Unten“ ist etwas, das im Universum unter bestimmten Umständen – so in der Nähe einer gewaltigen Masse – „auftaucht“. Von Nahem besehen, verschwimmen alle Dinge der Welt. Menschen schneiden sich die Welt in großen Scheiben zurecht. Sie denken sie in Begriffen, die für sie bedeutsam sind und die auf einer bestimmten Skala „auftauchen“.

Das rotierende Universum ist keine Illusion

Carlo Rovelli erklärt: „Wir sehen jeden Tag den Himmel über uns kreisen, obwohl wir uns drehen. Ist das tägliche Schauspiel des rotierenden Universums „illusorisch“? Nein, es ist real, betrifft aber nicht allein den Kosmos, sondern unsere Beziehungen zur Sonne und zu den Sternen.“ Die kosmische Bewegung „taucht“ in der Beziehung zwischen den Menschen und dem Kosmos „auf“. In diesen Beispielen taucht etwas Reales auf, in einer Welt, in der es das alles auf einfacherer Ebene nicht gibt.

Ähnlich taucht auch in einer zeitlosen Welt die Zeit auf. Im Taumel einer thermischen molekularen Vermischung variieren beständig sämtliche Variablen, die variieren können. Eine allerdings nicht: die Gesamtenergie, die in einem isolierten System steckt. Zwischen Energie und Zeit besteht eine enge Beziehung. Beide bilden zusammen eines der charakteristischen Größenpaare, die Physiker als „konjugiert“ bezeichnen, so wie Ort und Impuls oder Drehwinkel und Drehimpuls. Beide Glieder dieser Paare sind miteinander verknüpft. Quelle: „Die Ordnung der Zeit“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies