Theorien lassen sich nur falsifizieren

Der große Wissenschaftsphilosoph Karl Popper gelangte zu einer zentralen Erkenntnis. Nämlich dass die Naturwissenschaften keine Ansammlung verifizierbarer Sätze ist, sondern aus komplexen Theorien besteht, die sich bestenfalls insgesamt falsifizieren lassen. Die wissenschaftliche Erkenntnis basiert auf theoretischen Konstrukten, die sich im Prinzip durch empirische Beobachtungen widerlegen lassen. Carlo Rovelli erklärt: „Eine Theorie, die uns neue Vorhersagen erlaubt, die bestätigt und niemals von der Realität widerlegt wird, ist eine wissenschaftlich valide Theorie.“ Das heißt aber nicht, dass es nicht eines Tages doch zu einem Widerspruch kommen kann. Dann müssen Wissenschaftler nach einer besseren Theorie suchen. Mit dem evolutiven Aspekt wissenschaftlicher Erkenntnis hat sich Thomas S. Kuhn intensiv beschäftigt. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

Paradigmen können in eine Krise geraten

Für Thomas S. Kuhn ist eine naturwissenschaftliche Theorie ein konzeptueller Rahmen, ein „Paradigma“, um ein Ensemble von Phänomenen zu beschreiben. Im Rahmen einer solchen Theorie kann man die experimentellen Daten interpretieren. Daneben, die Probleme, vor denen man steht, exakt formulieren und Lösungswege finden. Die Paradigmen können in eine Krise geraten, wenn sie durch Beobachtungsdaten widerlegt werden. Das heißt, wenn sich im Lauf eines Experiments zeigt, dass die Dinge nicht so ablaufen, wie von der Theorie vorhergesagt.

Realistischer gesagt: Paradigmen geraten in die Krise, wenn sich empirische Daten anhäufen, die sich im Rahmen der Theorie nicht zufriedenstellend erklären lassen. Carlo Rovelli stellt fest: „Wenn es zu einer solchen Krise kommt, gibt es möglicherweise eine Alternativtheorie, die die alten und die neuen Phänomene besser erklären kann.“ Die neue Theorie kann dann die alten entthronen und ihren Platz einnehmen. In manchen Fällen kann diese „Revolution“ eine konzeptuelle Struktur und ein Vokabular mit sich bringen, die sich völlig von der Struktur und Begrifflichkeit der alten Theorie unterscheiden.

Methodische Vielfalt führt zu Wissenschaftsfortschritt

Im Extremfall widersprechen sich die beiden Theorien diametral. Die Naturwissenschaften oszillieren daher Thomas S. Kuhn zufolge zwischen „normalen“ Perioden, in denen es eine dominierende Theorie gibt und Perioden „wissenschaftlicher Revolution“, in denen das allgemeine Paradigma gestürzt und alle Phänomene innerhalb eines neuen konzeptuellen Rahmens reinterpretiert werden. Diese Interpretation von Wissenschaft ist in verschiedene Richtungen weiterentwickelt worden.

Manche Autoren betonen beispielsweise, dass die wissenschaftliche Realität aus einer Vielzahl miteinander wetteifernden Schulen besteht. Von denen gehen einige durch Stillstand zugrunde, weil die sich häufenden Schwierigkeiten dazu führen, dass sich Wissenschaftler produktiveren Forschungsgebieten zuwenden. Andere Autoren haben auf die außerordentliche methodische Vielfalt des wissenschaftlichen Prozesses hingewiesen. Und sie haben unterstrichen, dass jeder Versuch, diese Vielfalt auf eine einzige universelle Methode als Garant für die Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis zu reduzieren, zum Scheitern verurteilt ist. Quelle: „Die Geburt der Wissenschaft“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies