Anne Applebaum analysiert den politischen Wandel

Der politische Wandel ist seit Langem Gegenstand des Interesses von Akademikern und Intellektuellen. Dazu zählen ein Stimmungsumschwung in der Bevölkerung, die Kehrtwendung der öffentlichen Meinung oder der Einbruch der Wählerschaft einer Partei. Anne Applebaum weiß: „Es gibt eine umfangreiche Literatur zu Revolutionen und ein eigenes Untergenre, das sie vorhersagen soll. Die meisten Untersuchungen stützen sich auf quantifizierbare wirtschaftliche Messgrößen, etwa die Ungleichheit oder den Lebensstandard.“ Dabei geht es darum zu prognostizieren, wie groß das wirtschaftliche Leid, wie nagend der Hunger und wie verbreitet die Armut sein muss, um eine Reaktion zu provozieren, die Menschen auf die Straße zu treiben und Risiken auf sich nehmen zu lassen. Anne Applebaum ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

Neue Verwerfungen verursachen ideologische Umbrüche

Die Antwort auf diese Frage ist in letzter Zeit schwieriger geworden. Im Westen leidet die große Mehrheit der Menschen keinen Hunger. Sie haben zu essen und ein Dach über dem Kopf. Sie können schreiben und lesen. Den Menschen, die man heute als „arm“ und „benachteiligt“ bezeichnete, fehlen Dinge, von denen man vor hundert Jahren nicht einmal träumen konnte. Zum Beispiel eine Klimaanlage oder WLAN. In dieser neuen Welt werden ideologische Umbrüche weniger durch Hunger als durch neue Verwerfungen verursacht.

Die neuen Revolutionen haben nur noch wenig Ähnlichkeit mit den alten. Denn viele Menschen leben in einer Welt, in der die politische Diskussion überwiegend im Internet oder im Fernsehen stattfindet. Heute muss man in der Regel nicht mehr auf die Straße gehen und ein Plakat hochhalten, um seine Meinung kundzutun. Um politisch die Seiten zu wechseln, reicht es, einen anderen Fernsehsender einzuschalten. Man kann auch morgens eine andere Internetseite aufrufen oder in den sozialen Medien einer anderen Gruppe folgen.

Karen Stenner untersucht die totalitäre Persönlichkeit

Karen Stenners Untersuchungen zur totalitären Persönlichkeit lassen ahnen, wie und warum es in dieser neuen Welt des 21. Jahrhunderts zu politischen Revolutionen kommt. Viele Menschen fühlen sich zu autoritärem Denken hingezogen, weil sie keine Lust haben, sich auf Komplexität einzulassen. Anne Applebaum fügt hinzu: „Sie mögen keine Diskussionen, sie wünschen sich Einigkeit. Bei einer plötzlichen Konfrontation mit Vielfalt, sei es von Meinungen oder Erfahrungen, verlieren sie die Fassung.“

Sie suchen Lösungen in einer neuen politischen Sprache, die mehr Gewissheit und Sicherheit verspricht. Was ist es, was heute eine Reaktion gegen Komplexität provoziert? Einige Faktoren liegen für Anne Applebaum auf der Hand. Demografische Umwälzungen, zum Beispiel in Form der Ankunft von Fremden, ist eine Form der Komplexität, die autoritäre Neigungen seit jeher schürt. Es war kein Wunder, dass die Ankunft von Hunderttausenden Menschen aus dem Nahen Osten nach dem Herbst 2015 den Parteien, die mit autoritären Losungen und Symbolen arbeiten, mehr Unterstützer bescherte. Quelle: „Die Verlockung des Autoritären“ von Anne Applebaum

Von Hans Klumbies