Die Religion schafft keine allumfassende Identität

Die Religion eines Menschen muss nicht seine allumfassende oder ausschließliche Identität sein. Amartya Sen nennt ein Beispiel: „Gerade der Islam als Religion enthebt die Muslime in vielen Lebensbereichen nicht der Notwendigkeit einer verantwortungsbewussten Entscheidung.“ Es ist durchaus möglich, dass der eine Muslim eine streitbare Haltung einnimmt, während sich ein anderer sich gegenüber Andersgläubigen vollkommen tolerant verhält. Keiner der beiden hört allein aus diesem Grund auf, ein Muslim zu sein. Es gibt ausgesprochen verworrene Reaktionen auf den islamischen Fundamentalismus und den damit verbundenen Terrorismus. Das liegt daran, wenn man generell versäumt, zwischen islamischer Geschichte und der Geschichte der muslimischen Völker zu unterscheiden. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

Muslime haben viele verschiedene Ziele

Muslime haben wie alle Menschen auf der Welt viele verschiedene Ziele. Und nicht all ihre Prioritäten und Werte müssen in ihrer Identität des Islamischseins enthalten sein. Menschen sehen sich – und haben dafür gute Gründe – auf mannigfaltige Weise. Ein Muslim in Bangladesch ist nicht nur ein Muslim, sondern auch ein Bengale und ein Bangladescher. In der Regel ist er sehr stolz auf die bengalische Sprache, Literatur und Musik. Ganz zu schweigen von den Identitäten, die er sonst noch haben mag und die an Klassenzugehörigkeit, Geschlecht, Beruf, politische Einstellung und anderes geknüpft sein können.

Die Loslösung Bangladeschs von Pakistan hatte nichts mit Religion zu tun, denn die Mehrheit der Bevölkerung in den beiden Teilen des ungeteilten Pakistan besaß eine muslimische Identität. Amartya Sen erklärt: „Die Loslösung war eine Frage der Sprache, der Literatur und der Politik.“ Die fieberhafte Suche des Westens nach „dem gemäßigten Muslim“ verwechselt Mäßigung in den politischen Anschauungen mit Gemäßigtheit des religiösen Glaubens. Jemand kann einen starken – islamischen oder anderen – religiösen Glauben und zugleich eine tolerante politische Einstellung haben.

Die Reduzierung auf eine Identität stiftet Unfrieden

Das stillschweigende Beharren auf einer alternativlosen Singularität der menschlichen Identität setzt nicht nur alle Menschen in ihrer Würde herab. Sondern es trägt überdies dazu bei, die Welt in Flammen zu setzen. Die Alternative zu einer einzigen, alles zurückdrängenden und Unfrieden stiftenden Einteilung besteht nicht in der wirklichkeitsfremden Behauptung, die Menschen seien alle gleich. Das sind sie nämlich ganz und gar nicht.

Die große Hoffnung auf Eintracht in einer aufgewühlten Welt beruht vielmehr auf der Pluralität der menschlichen Identitäten. Diese überschneiden sich und stehen allen eindeutigen Abgrenzungen entgegen, die nur ein einziges unentrinnbares Unterscheidungsmerkmal kennen. Amartya Sen kritisiert: „Unser gemeinsames Menschsein wird brutal in Frage gestellt, wenn unsere Unterschiede reduziert werden auf ein einziges, willkürlich erdachtes Einteilungsschema, dem alles andere untergeordnet wird.“ Quelle: „Die Identitätsfalle“ von Amartya Sen

Von Hans Klumbies