William Shakespeare schrieb Tragödien und Komödien

Ágnes Heller weiß: „In der Neuzeit war die strikte Trennung zwischen tragischem Dichter und komischem Dichter bereits überholt.“ Sokrates schlug vor, dass derselbe Dichter Tragödie und Komödie schreiben sollte. Dabei bezog er sich offensichtlich auf seine eigenen philosophischen Dialoge, die sowohl tragisch als auch komisch waren. Doch der erste Dichter, der sowohl Tragödien als auch Komödien und darüber auch „Romanzen“ schrieb, war William Shakespeare. Und er tat noch etwas Unerhörtes: Es gab komische Szenen in seinen Tragödien als auch tragische Szenen in seinen Komödien. Ágnes Heller, Jahrgang 1929, war Schülerin von Georg Lukács. Ab 1977 lehrte sie als Professorin für Soziologie in Melbourne. 1986 wurde sie Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Ágnes Heller starb am 19. Juli 2019 in Ungarn.

Aristoteles beschreibt die Geburt der antiken Tragödie

Ein Jahrhundert später versuchten einige der größten Dichter, sich in beiden Genres hervorzutun, doch nur wenige waren erfolgreich. Eine Tragödie von Molière oder eine Komödie von Corneille liegt weiter unter dem künstlerischen Niveau ihrer „typischen“ Genres. Ágnes Heller erklärt: „Wir kennen die empirische Kurzgeschichte der Geburt der antiken Tragödie von Aristoteles. Zuerst war das Theater, die öffentliche Darbietung von Poesie als Chorgesang, die Dithyramben, die für dionysische Mysterien erfunden und aufgeführt wurden.“

Zunächst nahm der Chor die Bühne ein mythologische Geschichten und Lyrik führte man im Kult dieser „fremdartigen“ Gottheit auf. Dann stellte man einen Schauspieler neben den Chor, gefolgt von zwei und später drei Schauspielern. So entstanden die Genres des Dramas, der Tragödie und der Komödie. Man diskutierte und diskutiert, ob die Schauspieler ihre Gedichte sangen oder sprachen. Dass der Chor sang, weiß man von Aristoteles, aber er erwähnt keine singenden Schauspieler.

Friedrich Nietzsche kennt die Quellen der Kunst

Ágnes Heller nimmt an, dass sie ihren poetischen Text im Rhythmus des Metrums deklamierten. Friedrich Nietzsche erzählte seine eigene Geschichte über die Geburt der Tragödie. Er spricht über die beiden Quellen der Kunst im Allgemeinen und der griechischen Kunst im Besonderen. Einerseits über den apollinischen Traum, das schöne Bild, und andererseits über die dionysische Raserei, die Musik der Dithyramben. Ágnes Heller vertritt die These, dass die ersten großen Tragiker beides miteinander verbunden haben.

Stars der klassischen deutschen Literatur wie Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller stellten sich ein antikes Griechenland der Schönheit, der Harmonie vor. Ihre Bezugspunkte waren die Statuen der Götter, von Apollon, von Aphrodite. Wie harmonisch, wie schön sie waren! Selbst ihre Dramen, die auf Themen der griechischen Mythologie basieren, wie „Iphigenie auf Tauris“ von Johann Wolfgang von Goethe sind klassisch im Sinne einer Statue. Friedrich Nietzsche stellte diese Vision der griechischen Lebensweise infrage. Quelle: „Vom Ende der Geschichte“ von Ágnes Heller

Von Hans Klumbies