Das Coronavirus war nicht besonders tödlich

Skeptiker weisen gerne darauf hin, das Bemerkenswerteste an der Covid-Krise sei, dass man aus etwas Gewöhnlichem eine globale Krise gemacht hätte. Egal, was man tut, Menschen sterben, und an Covid sterben dieselben Menschen, die normalerweise auch sterben – alte Menschen mit Vorerkrankungen. Adam Tooze nennt Beispiele: „In einem normalen Jahr sterben diese Menschen an Grippe und Lungenentzündung. Jenseits des privilegierten Kerns der reichen Welt sterben Millionen von Menschen an Infektionskrankheiten wie Malaria, Tuberkulose und HIV. Und trotzdem geht das Leben weiter.“ Das Coronavirus war, gemessen an den Maßstäben historischer Seuchen, nicht besonders tödlich. Was beispiellos war, war die Reaktion. Überall auf der Welt kam das öffentliche Leben zum Erliegen, genauso wie große Teile des Handels und des regulären Geschäftsverkehrs. Adam Tooze lehrt an der Columbia University und zählt zu den führenden Wirtschaftshistorikern der Gegenwart.

Die Todesfälle durch Armutskrankheiten gingen zurück

Überall auf der Welt rief diese massive Unterbrechung der Normalität in unterschiedlichem Ausmaß Unverständnis, Empörung, Widerstand, Nichtbefolgung und Protest hervor. Man muss nicht mit der Politik der Kritiker sympathisieren, um die historische Kraft ihres Standpunktes anzuerkennen. Auf eine neue und bemerkenswerte Weise wurde eine medizinische Herausforderung zu einer viel umfassenderen Krise. Es stimmt, dass alte Menschen sterben, aber es kommt darauf an, wie viele und in welchem Tempo und aus welchen Ursachen.

Zu jedem gegebenen Zeitpunkt kann diese Rangfolge der Sterblichkeit in Form einer Matrix von Wahrscheinlichkeiten beschrieben werden. Global gesehen ist die Geschichte der letzten Jahrzehnte die eines beachtlichen Fortschritts bei der Reduzierung der Todesfälle durch Armutskrankheiten. Dazu zählen unter anderem übertragbare Krankheiten, Krankheiten von Müttern und Neugeborenen, ernährungsbedingte Krankheiten. Dennoch ist es so, dass armen Menschen und Menschen in einkommensschwachen Ländern am frühesten und an den an den ehesten vermeidbaren Krankheiten sterben.

Privatversicherte leben vier Jahre länger als gesetzlich Versicherte

Adam Tooze weiß: „Im Jahr 2017 waren die Gesundheitsausgaben pro Kopf in Ländern mit hohem Einkommen kaufkraftbereinigt 49-mal so hoch wie in Ländern mit niedrigem Einkommen.“ Innerhalb der reichen Länder gibt es erschreckende Ungleichheiten bei der Kinder- und Müttersterblichkeit und bei der allgemeinen Lebenserwartung. Diese verlaufen entlang von ethnischen und klassenspezifischen Linien. Epidemischer Drogenkonsum bei benachteiligten und marginalisierten Bevölkerungsgruppen, Asthma und Bleivergiftung bleiben unbehandelt.

In Deutschland sterben 27 Prozent der Männer in der untersten Einkommensklasse vor dem Alter von 65 Jahren, verglichen mit 14 Prozent der höchsten Einkommensgruppe. Bei Frauen sind die Unterschiede nur ein bisschen geringer. Im Krankenversicherungssystem der zwei Klassen Deutschlands ist die Lebenserwartung der 11 Prozent Privatversicherten um vier Jahre höher als die der gesetzlich Versicherten. In den USA starben laut einer Studie aus dem Jahr 2009 etwa 45.000 Menschen aufgrund einer fehlenden Krankenversicherung. Quelle: „Welt im Lockdown“ von Adam Tooze

Von Hans Klumbies