Eine Rückschau vom Ende her lohnt sich

Das aktuelle Philosophiemagazin Nr.02/2022 beschäftigt sich in seinem Titelthema mit der Frage „Wer will ich gewesen sein?“ Es gelte also vom vorweggenommenen Ende zurückzuschauen. Das Leben vom Ende her zu denken, ist Zumutung und Befreiung zugleich. Nur wenn man sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst ist, entwickelt man einen Sinn für das Wesentliche. Von diesem imaginären Standpunkt aus wird man vielleicht vieles von dem, das man augenblicklich als unbedingt notwendig erachtet, plötzlich viel gelassener sehen. Es ist zugleich eine Einladung an die Leser, ihre vielen Pläne einmal zur Seite zu legen und eine ganz andere Perspektive einzunehmen. Gleichzeitig hofft Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler, dass die Frage viele Menschen ermutigt, wach, kritisch und neugierig zu bleiben: „Denn es ist die Erkenntnislust, die uns einer Antwort näherbringt.“

Selbstbestimmung ist für Friedrich Nietzsche niemals fertig

Der Philosoph, der dieses Gedankenexperiment der imaginären Rückblende wie kein Zweiter auf den Begriff gebracht hat, ist Martin Heidegger. In seiner Schrift „Sein und Zeit“ beleichtet er ein entfremdetes Dasein, dem diese Perspektive fehlt. Dieses Dasein geht fremdbestimmt durchs Leben und zeichnet sich durch Zerstreuung, Konsum und Öffentlichkeitsfixiertheit aus. Ein Mensch, der so lebt, hat den Kompass für die Ausrichtung der eigenen Existenz verloren. Svenja Flaßpöhler stellt erklärt: „Es sind nicht die eigenen Wünsche, sondern die Ansprüche der anderen, die erfüllt werden. Und so verpasst ein Mensch, ohne es zu merken, sein Leben.“

Die Rubrik „Klassiker“ hat das Philosophie Magazin diesmal Friedrich Nietzsche gewidmet. Selbstbestimmung ist für ihn nie fertig, weil sie immer gegen einen inneren und äußeren Widerstand ankämpfen muss. Andreas Urs Sommer ergänzt: „Und es gibt für sie keine Stellvertretung. Niemand kann sie uns abnehmen.“ Selbstbestimmung bedeutet bei Friedrich Nietzsche auch Selbstprägekraft. Dabei handelt es sich um die Kraft, sich selbst Form, sich selbst Gestalt zu geben.

Querdenker zählen zu den Schwurblern

Theresa Schouwink stellt fest, dass sich in letzter Zeit ein Wort von Twitter in die Feuilletons der großen Zeitungen ausbreitet: „Schwurbeln“. Der Begriff leitet sich vom mittelhochdeutschen „swerben“ – sich im Kreise drehen – ab und bedeutet dem Duden zufolge „Unsinn reden“. Als Schwurbler gelten unterschiedslos Verschwörungstheoretiker, Querdenker und oft auch diejenigen, die pauschale Verurteilungen von Ungeimpften problematisieren.

Zum Buch des Monats hat das Philosophie Magazin diesmal „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“ von David Graeber und David Wengrow gewählt. Die Autoren demontieren darin den Mythos von der Gesellschaft, die ihren Aufstieg mit dem Preis der Ungleichheit bezahlt. Denn Ungleichheit ist kein Schicksal. Schon im ersten Kapitel heißt es: „Wir Menschen sind Projekte kollektiver Selbsterschaffung.“ Graeber und Wengrow verorten sich in einer Tradition, die jede Form von Schicksal oder Fügung aus der Geschichte streichen will.

Von Hans Klumbies