Komplexe Gesellschaften sind stets krisenhaft

Armin Nassehi entwirft in seinem neuen Buch „Unbehagen“ eine Theorie der überforderten Gesellschaft. Moderne Gesellschaften folgen einerseits stabilen Mustern. Sie sind deshalb träge und kaum aus der Ruhe zu bringen. Andererseits erweisen sich ihre Institutionen und Praktiken immer wieder als erstaunlich zerbrechlich und verwundbar. Armin Nassehi betont: „In Situationen, die wir Krisen nennen, prallen diese beiden widersprüchlichen Seiten der gesellschaftlichen Moderne besonders heftig aufeinander.“ Der Autor vertritt in seinem Buch die These, dass komplexe Gesellschaften sich fortlaufend selbst als krisenhaft erleben. Dabei kehren sie niemals in eine prästabilisierte Harmonie zurück. Armin Nassehi stellt zudem die Sachdimension gesellschaftlicher Strukturen ins Zentrum seiner theoriegeleiteten Gesellschaftsanalyse. Dadurch gelingt ihm ein konstruktiver Blick auf eine überforderte Gesellschaft, die in ihrem Unbehagen ihre eigene Kompetenz zum Lösen von Problemen zu vergessen droht. Armin Nassehi ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Die moderne Gesellschaft ist mit sich selbst überfordert

Armin Nassehi deutet zugleich an, was man aus dem Umgang mit der Pandemie und der Klimakrise lernen kann, um für künftige Krisen besser gerüstet zu sein. Begrifflich nimmt der Titel des Buches Bezug auf Sigmund Freuds kulturtheoretische Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930). Deren Hauptthese besteht darin, dass die Spannung zwischen dem Individuum und der Kultur mit deren Höherentwicklung eklatant zunimmt. Sigmund Freud beschreibt einen Menschen, der letztlich nicht wirklich modernitätsfähig ist.

Die moderne Gesellschaft nutzt ihre Eigenkomplexität zur Lösung von Problemen. Und sie stößt gleichzeitig an die Grenzen ihrer eigenen Verarbeitungskapazität. Das meint laut Armin Nassehi Überforderung mit sich selbst. In der Verzweiflung vieler Menschen drückt sich ein Teil jenes Unbehagens aus, über das Armin Nassehi schreibt: „Die Erfahrung lautet: Die Gesellschaft hat fast alles Wissen, fast alle Ressourcen, die meisten Mittel und auch die Gelegenheit, die großen Probleme der Welt zu lösen.“ Diese reichen von sozialer Verelendung über schreiende Ungerechtigkeit bis hin zum Klimawandel oder der ökologischen Zerstörung.“

Eine durchschaubare Welt ist eine unsichere Welt

Und doch sieht es so aus, als sei genau das nicht möglich, obwohl es doch offenkundig möglich ist. Um diese Art des Unbehagens geht es in dem Buch von Armin Nassehi, also um die Frage, wie sich die moderne Gesellschaft auf selbsterzeugte Probleme einstellen kann. Selbsterzeugt meint ein Doppeltes: Es sind einerseits Probleme, die direkt der gesellschaftlichen Praxis entstammen. Andererseits sind es selbsterzeugte Probleme, weil gesellschaftliche Instanzen und Institutionen nur die Herausforderungen in den Blick bekommen, die eine entsprechende Aufmerksamkeit erzeugen.

Das Fragilste an der Moderne ist für Armin Nassehi der Latenzschutz. Eine durchschaubare Welt ist eine unsichere Welt. Das hört sich widersinnig an, stimmt aber. Eine Lehre aus COVID ist die, was mit einer Gesellschaft passiert, die temporär in den Abgrund ihrer eigenen Praktiken sieht. Dabei wird sichtbar, wie beliebig, kontingent und inkonsistent politisches Entscheiden vonstattengeht. Zudem gerät in den Blick, wie voraussetzungsreich wissenschaftliches Wissen ist, wie fragil die eigene familiale Lebensform ist, wie abhängig man vom Cashflow ist und wie bedeutungslos Routinen sind, wenn der Rahmen verschwindet.

Unbehagen
Theorie der überforderten Gesellschaft
Armin Nassehi
Verlag: C. H. Beck
Gebundene Ausgabe: 384 Seiten, Auflage: 2021
ISBN: 978-3-406-77453-9, 26,00 Euro

Von Hans Klumbies