Mattias Desmet erforscht die Psychologie des Totalitarismus

In seinem neuen Buch „Die Psychologie des Totalitarismus“ analysiert Mattias Desmet unter andere den psychologischen Prozess der Massenbildung. Dadurch kann er die geradezu verblüffenden Merkmale einer totalisierten Bevölkerung verstehen. Ein Kennzeichen besteht in der radialen Bereitschaft der Individuen, ihre persönlichen Interessen aus Solidarität mit dem Kollektiv – das heißt mit der Masse – zu opfern. Ein weiteres Merkmal ist die Intoleranz gegenüber dissidenten Stimmen und die Empfänglichkeit für absurde – pseudowissenschaftliche – Indoktrination und Propaganda. Matthias Desmet erklärt: „Massenbildung ist im Grunde eine Form von Gruppenhypnose, die Individuen jeglicher Fähigkeit zu kritischer Distanz und ethischem Bewusstsein beraubt. Dieser Prozess ist schleichend; eine Bevölkerung fällt ihm arglos zum Opfer.“ Mattias Desmet ist Professor für Klinische Psychologie an der Abteilung für Psychoanalyse und klinische Beratung der Universität Gent.

Der Totalitarismus entwickelt sich in einem schleichenden Prozess

Yuval Noah Harari vertritt sogar die These, dass die meisten Menschen es nicht bemerken würden, wenn sich ein totalitärer Staat installieren würde. Man assoziiert Totalitarismus vor allem mit Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslagern. Aber das ist nur der letzte, erschütternde Schritt in einem langen Prozess. Für die Philosophin Hannah Arendt ist die Grundströmung des Totalitarismus der blinde Glaube an eine Art statistisch-zahlenmäßig untermauerte „wissenschaftliche Fiktion“. Diese weist eine „bemerkenswerte Verachtung für Tatsachen“ auf.

Daneben ist das Zukunftsbild vieler Menschen zunehmend von Pessimismus und Perspektivlosigkeit gekennzeichnet. Der psychologische Zustand der Bevölkerung ist besorgniserregend. Ein großer Teil der Menschen befindet sich in einer nahezu kompletten Isolation. Die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Leiden und der Gebrauch von Psychopharmaka steigt exponentiell. Die Diagnose Burn-out nimmt epidemische Forman an und gefährdet das Funktionieren von Betrieben und Behörden.

Der Totalitarismus ist den Folge des mechanistischen Denkens

Mattias Desmet weiß: „Totalitarismus ist kein historischer Zufall. Im Endeffekt ist er die logische Folge des mechanistischen Denkens und des damit verbundenen wahnhaften Glaubens an die Allmacht des menschlichen Verstandes.“ In seinem Buch analysiert der Autor das Symptom des Totalitarismus und ordnet es in die breitere Logik des gesellschaftlichen Prozesses ein. Im ersten Teil untersucht er, wie das vorherrschende Menschen- und Weltbild genau jenen gesellschaftlich-psychologischen Zustand erschafft, in dem Massenbildung und Totalitarismus gedeihen. In Teil zwei beschreibt er den eigentlichen Prozess der Massenbildung und dessen Zusammenhang mit dem Totalitarismus.

Teil drei widmet Mattias Desmet der Frage, wie man das heutige Menschen- und Weltbild überwinden kann, sodass Totalitarismus als symptomatische Lösung überflüssig wird. Der Fokus des Buchs „Die Psychologie des Totalitarismus“ ist auf den breiten kulturhistorischen Prozess gerichtet, dem der Totalitarismus entspringt. Das Wissen, dass keine einzige Logik absolut ist, ist die Bedingung für mentale Freiheit. Die Lücke in der Logik eröffnet buchstäblich einen Raum für einen eigenen Stil und für Schöpferdrang.

Die Psychologie des Totalitarismus
Mattias Desmet
Verlag: Europa Verlag München
Gebundene Ausgabe: 270 Seiten, Auflage: 2023
ISBN: 978-3-95890-542-9, 24,00 Euro

Von Hans Klumbies