Gefahren sind schwer einzuschätzen

Zu den schwierigsten Dingen für den menschlichen Verstand gehört es, Gefahren realistisch einzuschätzen. Konkrete Bedrohungen des Alltags sind noch relativ leicht abzuschätzen. Als Beispiele nennt Richard David Precht mulmige Situationen in der nächtlichen Großstadt oder in einem Park, die Gefahr abzustürzen, sich zu vergiften oder überfahren zu werden. Ganz anders aber sieht die Sache aus, wenn man allgemeine Lebens- und Todesrisiken überschauen muss. Richard David Precht erläutert: „Unser animalischer Instinkt für Gefahren wird schnell machtlos und weicht auffälligen Fehleinschätzungen. So überschätzt man etwa die Gefahr, in Deutschland durch einen islamistischen Terroranschlag zu sterben, maßlos.“ De facto ist es hierzulande wahrscheinlicher, bei einem Blitzschlag ums Leben zu kommen, als durch ein entsprechendes Attentat. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Die Grippe ist gefährlicher als islamistischer Terror

Das größte Todesrisiko ist gemeinhin die Grippe. Durch diese sind seit dem Jahr 2000 durchschnittlich fast viertausendmal mehr Menschen ums Leben gekommen als durch islamistischen Terror. Sich bei unsichtbaren Gefahren auf Gefühle zu verlassen täuscht fast immer. Der evolutionäre Apparat des Menschen ist darauf nicht geeicht. Die menschlichen Vorfahren in der afrikanischen Savanne lernten sehr genau, die Gefahr durch Raubtiere einzuschätzen. Krankheiten und dem allmählichen Wandel des Klimas standen sie dagegen relativ hilflos entgegen.

So fürchten sich viele Menschen bei exotischen Urlaubsreisen noch immer über Gebühr vor Haiangriffen im Meer oder vor Schlangenbissen. Und eben auch vor der Gefahr durch arabische Finsterlinge in Deutschland. Auch bei denen wirft die Fantasie ebenso Anker in einem Furchtobjekt wie bei Haien und Schlangen. Richard David Precht rät: „Sich vor übermäßigem Alkoholkonsum, Zigaretten oder Bewegungsmangel zu fürchten ist allerdings weitaus klüger, als einer allgemeinen Hysterie gegenüber islamistisch motiviertem Terror zu verfallen.“

Die eigene Gesundheit ist Privatsache

Gleichwohl erfassten den deutschen Staat, spätestens seit dem 11. September 2001 immer wieder hohe Aufregungswellen. Dadurch gab man stets neue Milliarden Euro zur Bekämpfung des Terrors aus und erhöhte das Personal und die Befugnisse des Sicherheitsapparates drastisch. Richard David Precht gibt zu, dass solche Vergleiche nicht ganz sauber sind. Denn Terrorismusbekämpfung ist eindeutig eine Aufgabe des Staates. Dagegen ist es sehr weitgehend Privatsache, auf die eigene Gesundheit zu achten.

Das gilt allerdings nicht absolut, jedenfalls nicht dann, wenn die eigene Sorglosigkeit das Leben anderer stark gefährdet. Parteien wie die AfD können gar nicht genug von der arabischen Gefahr warnen und nehmen die Covid-19-Pandemie dagegen auf die leichte Schulter. Richard David Precht fragt sich, auf welcher nachvollziehbaren Grundlage die Rechtspartei so bizarr gewichtet. Den mehr als 60.000 Menschen – Stand Februar 2021 – in Deutschland mit oder an Corona gestorben sind, stehen jährlich zwischen 100 und 700 Todesopfer durch islamistisch motivierte Terroranschläge in ganz Europa gegenüber. Quelle: „Von der Pflicht“ von Richard David Precht

Von Hans Klumbies