Es gibt sechs bis zehn Millionen Insektenarten

Insekten sind überall. Sie sind zahlreich. Sie unterscheiden sich so stark voneinander wie keine andere Klasse des Lebendigen. Eine erdrückende Mehrheit der tierischen Biodiversität – 90 Prozent – verdankt sich ihrem anatomischen Dandytum. Emanuele Coccia erläutert: „Man schätzt die Anzahl ihrer Arten auf sechs bis zehn Millionen. Ihr somatischer Einfallsreichtum beschränkt sich dabei nicht nur auf die Erfindung neuer, spezifischer Identitäten.“ Sie besitzen auch die Gabe, derart verschiedene Körper im Laufe eines individuellen Lebens zu bilden, dass man sie lange Zeit für magische Wesen hielt, die von einer Spezies zur anderen wechseln konnten. Die Insekten machen die Biodiversität des Planeten zu einer Frage der persönlichen Virtuosität. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

Insekten sind die Meister der Metamorphose

Durch ihre Verwandlung in einen Schmetterling stellt die Raupe in ihrem Leben und aus sich selbst heraus eine morphologische Diversität her. Diese ist so stark ausgeprägt wie die zwischen verschiedenen Arten. Emanuele Coccia erklärt: „Den Insekten gelingt es, in ihrem Lebensmodus einen Unterschied zu überbrücken, zu dem uns einzig die interspezifische Erfahrung Zugang verschafft.“ Im Übrigen war es Ovid, der zur Bestimmung ihres Lebensmodus den lateinischen Begriff „metamorphosis“ einführte, den man später in der Biologie verwendete.

Der Naturforscher Thomas Muffet war der Erste, der ihn übernahm. Wenn Politik die Wissenschaft der Diversität ist, dann sollte man die Meister der Diversifizierung danach fragen, wie es sich miteinander leben lässt. Emanuele Coccia weiß: „Die Insekten sind die Meister der Metamorphose, aber das war nicht immer so. Sie wurden nicht mit dieser Gabe geboren. Sie haben sie sich im Laufe der Zeit erarbeitet, was ihre Leistung noch unglaublicher erscheinen lässt.“

Die Metamorphose ist eine transzendentale Form des Lebens

Die ersten Insekten besaßen keine Flügel und kannten keine formale Umwandlung. Nichts ist natürlich, ursprünglich, spontan an dieser Fertigkeit. Daran ist die Haut schuld. Aus der Perspektive des Insekts ist alles Form und bringt jede Veränderung der Größe eine neue Form hervor. Quantitative und qualitative Phänomene werden nicht unterschieden, alles Wachstum ist Metamorphose. Die anatomische Struktur der Insekten macht sichtbar, was im Körper der anderen Lebewesen kaum noch wahrzunehmen ist.

Die Form eines Menschen ist etwas, die er zeit seines Lebens konstruiert und demontiert. Und sie ist niemals etwas, was ihm bei der Geburt ein für alle Mal mitgegeben wurde. Die Geburt ist also der Vorgang der Konstitution von Gestalt. Die Metamorphose dagegen ist auch kein punktuelles Ereignis mehr, sondern eine transzendentale Form des Lebens als solches. Die Metamorphose der Insekten ist ein Paradigma, um sich die radikalste aller Verwandlungen vorstellen zu können. Quelle: „Metamorphosen“ von Emanuel Coccia

Von Hans Klumbies