Die klassische Antike „erfindet“ das Individuum

Selbstverständlich gab es auch schon vor der Renaissance die Entdeckung und Wertschätzung des Einzelnen. Larry Siedentop etwa verlegt die „Erfindung des Individuums“ in die klassische Antike Griechenlands. Rüdiger Safranski ergänzt: „Bereits dort beobachtete er, dass Individuen ganz besonders geschätzt werden: Es gibt sie nicht einfach, es soll sie geben. Es finden sich nicht nur einfach Unterschiede zwischen ihnen, sondern es ist gut, dass es Unterschiede gibt.“ Und es ist noch besser, wenn es möglichst viele davon gibt. Es handelt sich dabei um die entfaltete Vielfalt als Ziel, viele Einzelne, die in ihrer jeweiligen Einzelheit sichtbar bleiben. Über lange historische Wegstrecken und in vielen Kulturräumen war und ist das gesellschaftliche Zusammenleben so organisiert, dass die Individualität in der Regel in den kollektiven Verbänden verschwindet. Rüdiger Safranski arbeitet seit 1986 als freier Autor. Sein Werk wurde in 26 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.

Die liberale Gesellschaft setzt auf den Reichtum an Unterschieden

Wert empfängt das Individuum von der Zugehörigkeit und vom Beitrag zum jeweiligen Kollektiv. Wo solche Ordnungen festgefügt und selbstverständlich sind, kann das selbstbewusste Hervortreten eines Individuums als Skandal wirken oder als Epiphanie. Meistens war es etwas dazwischen. Rüdiger Safranski erklärt: „Und immer deuten sich in solchen Vorkommnissen Umbrüche an, wenn auch eben nur vereinzelt.“ Es ist ein weiter Weg von der vereinzelten Hochschätzung der originellen Individualität zu einer Gesellschaft, die sich generell das Ziel setzt, einen Reichtum an verschiedenen Individualitäten zu ermöglichen.

Auch wenn womöglich in der Regel so ist wie der andere und keiner er selbst, setzt die individualisierte Gesellschaft ihr Ideal entgegen. Jeder soll anders sein, keiner soll wie die anderen sein. Die liberale Gesellschaft setzt offiziell auf den Reichtum an Unterschieden. Und was ist mit der Gleichheit? In der Natur gibt es sie nicht. Alles ist verschieden. Kein Wesen ist völlig gleich dem anderen. Es zählt aber zu den großen Errungenschaften der Kulturentwicklung, die Gleichheit vor dem Gesetz erfunden zu haben.

Der Individualismus ist tief in der europäischen Tradition verwurzelt

Die Erfindung dieser rechtlichen Gleichheit hat die Dynamik der Entwicklung von Individualität begünstigt. Rüdiger Safranski fügt hinzu: „Gleichheit besteht dann darin, dass jeder das Recht und die Möglichkeit hat, sich zu unterscheiden. Dass man unterschieden wird, von außen und von anderen, ist gewissermaßen die passive Seite des Unterschieds.“ Doch es gibt auch die aktive. Man will sich zu seinem Vorteil unterscheiden und empfindet es als kränkend, wenn andere diesen Unterschied nicht bemerken.

Rüdiger Safranski stellt fest: „Darum geht der Kampf um Anerkennung: Man möchte als dieser Besondere, der man ist, anerkannt werden. Normativ gesehen ist die Gleichheit die Voraussetzung, und der Unterschied und seine Anerkennung sind das Ziel.“ Diese Ideen des Individualismus sind tief in der europäischen Tradition verwurzelt. Deshalb lag es nahe, sie auch in der griechischen Antike zu suchen. Es ist jedenfalls eine alte Geschichte, und die christliche Religion spielt dabei eine bedeutende Rolle. Quelle: „Einzeln sein“ von Rüdiger Safranski

Von Hans Klumbies