Wolfdietrich Schnurre war derjenige Schriftsteller, der als allererster Autor auf einer Tagung der Gruppe 47 aus einem seiner Werke vorgelesen hat. Das war am 6. September 1947 am Bannwaldsee, im Haus von Ilse Schneider-Lengyel. Erst im Nachhinein wurde dieses Schriftstellertreffen als offizielle Gründungsveranstaltung der Gruppe 47 betrachtet. Die Erzählung, die Wolfdietrich Schnurre damals vortrug, hieß „Das Begräbnis“. Der Autor, der gerade sechseinhalb sinnlose Jahre als Soldat im Zweiten Weltkrieg erlebt hatte, war tief davon überzeugt, dass seine deutsche Muttersprache von der Ideologie der Nazis verseucht war und deswegen einen radikalen Kahlschlag benötigte.
Die Kennzeichen einer guten Kurzgeschichte
Wolfdietrich Schnurre bemühte sich in seinen Erzählungen und Romanen um eine Literatursprache, die schlicht und ohne Affekte daherkam. Sie war der Alltagssprache ähnlich, im Falle dieses Autors, dem Berlinerischen. Wolfdietrich Schnurre wurde zwar 1920 in Frankfurt am Main geboren, verbrachte aber den größten Teil seines Lebens in Berlin. Er starb 1989. Bekannt war der Autor vor allem als Meister der Kurzprosa.
In seinem Text „Kritik und Waffe“ definiert Wolfdietrich Schnurre, was eine gute Kurzgeschichte ausmacht. Er schreibt: „Sie ist ein Stück herausgerissenes Leben. Ihre Sprache ist einfach, aber niemals banal. Nie reden die Menschen auch in der Wirklichkeit so, sie könnten so reden. Ihre Stärke liegt im Weglassen, ihr Kunstgriff ist die Untertreibung.“ Auch als Schulbuchautor hatte sich Wolfdietrich Schnurre einen sehr guten Namen gemacht.
Verständlich sein ist die einzige Plicht eines Schriftstellers
Über das Schreiben sagte Wolfdietrich Schnurre einmal folgendes: „Nicht so sehr literarischer Ehrgeiz, sondern mein Gewissen treibt mich zum Schreibtisch.“ Im Band „Funke im Reisig. Erzählungen 1945 bis 1965“ sind die besten Kurzgeschichten des Meisters der kurzen Form zusammengefasst. Selbst Literaturnobelpreisträger Günter Grass war beispielsweise von der Lektüre der Kurzgeschichte „Steppenkopp“ begeistert, die sich in dem Band befindet.
Ab 1951 nahm Wolfdietrich Schnurre nicht mehr an den Treffen der Gruppe 47 teil, da er mit der Sprachpoesie der neu dazugekommenen Kollegen nichts mehr anfangen konnte. Er sagte: „Verständlich sein. Im Grunde die einzige Pflicht, die ich als Schriftsteller habe. Denn sie bedeutet den entscheidenden Schritt in die angewandte Humanität.“ Wolfdietrich Schnurres Herz schlug immer für die Außenseiter der Gesellschaft. Im Laufe der Jahre wurde er selbst zum einsamen „Steppenwolf“.
Wolfdietrich Schnurre erhält den Georg-Büchner-Preis
1978 erscheint ein neues Werk des Autors, „Schattenfotografen“. Der Schriftsteller agiert hier als Splitterchronist und Mosaikbiograph. Das Buch setzt sich aus persönlichen Erinnerungen, Tagebuchnotizen, Reflexionen, kleinen Geschichten und Aphorismen zusammen. Wolfdietrich Schnurre setzt sich darin auch mit seinen literarischen Vorbildern Ernst Bloch, Franz Kafka und Walter Benjamin auseinander. Er denkt über die Vergänglichkeit, die Zeit und über Krankheiten nach.
An einer Stelle in den „Schattenfotografen“ heißt es: „Es gibt nur ein Thema: Die Endlichkeit. Und: Was sich abspielt vor ihr.“ Auf einer anderen Seite schreibt Wolfdietrich Schnurre: „Dunkel davor, Dunkel danach. Umgekehrt also: Der Schatten wirft uns; als Geburtsakt verstanden.“ 1983 erhält Wolfdietrich Schnurre den Georg-Büchner-Preis. Der Preisträger konnte auch witzig und bissig sein, wenn er beispielsweise über eine Eintagsfliege schreibt, die Tagebuch führt. Kaum drei Stunden auf der Welt bringt die Fliege folgendes zu Papier: „Oh, diese Farce von einem Dasein, der Weltgeist berauscht sich an der Machtlosigkeit seiner Geschöpfe; er erschafft uns, um uns scheitern zu sehen.“
Von Hans Klumbies