Die kulturellen Güter, die in der Spätmoderne fabriziert und angeeignet werden, sind überwiegend singuläre Güter. Andreas Reckwitz schränkt ein: „Natürlich: Jene kulturellen Güter, die massenhaft produziert und von der Masse als standardisierte genossen werden, hat es in der Moderne immer gegeben und gibt es immer noch.“ Doch sie sind in die Defensive geraten und herabgesunken in die Sphäre der Profanität. Aber was macht ein kulturelles Gut zu einem singulären? Um einzigartig zu werden, kommen für ein Gut zwei Eigenschaften in Frage, die nicht aufeinander reduzierbar sind: Originalität und Rarität. Demgegenüber ist das standardisierte Gut, dem die Singularität abgesprochen wird, durch Gleichförmigkeit und Massenhaftigkeit charakterisiert. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.
Ein modernes Kunstwerk ist originell
Zunächst kommt Andreas Reckwitz auf die Originalität zu sprechen: „Damit ein Gut als einzigartig gilt, muss es originell erscheinen. Dies umfasst zwei, uns bereits vertraute Eigenschaften: das Gut muss nicht nur graduell, sondern in grundsätzlicher und qualitativer Hinsicht anders sein als andere Güter, und es muss seine eigene, innere Struktur besitzen.“ Also: Etwas wird originell, indem es nach innen Eigenkomplexität und kulturelle Dichte – narrative, ästhetische, ludische, ethische, gestalterische – entwickelt und nach außen durch qualitative Andersheit charakterisiert ist.
Originalität arbeitet immer mit beidem: eigenkomplexer Dichte und „absoluter“ qualitativer Differenz. Es ist für Andreas Reckwitz nicht verwunderlich, dass der Begriff der Originalität ursprünglich ab Ende des 18. Jahrhunderts in der Kunsttheorie entwickelt wurde. Moderne Kunstwerke sind Singularitäten par excellence, die das Strukturmodell für alle anderen singulären Güter liefern. Das moderne Kunstwerk – sei es ein Roman oder Gemälde, ein Theater- oder Musikstück – beansprucht schließlich immer, jeweils anders als alle anderen Werke zu sein.
Moderne Kunst baut eine eigene Welt auf
Andersheit ist dabei nicht als eine beliebige, feine Differenz zu begreifen, sondern als eine absolute und qualitative. Diese Art der Differenz sorgt dafür, dass dem Werk bei seinem ersten Auftauchen mit dem Gefühl der Überraschung begegnet wird. Auch mit Blick auf die für Originalität notwendige eigene innere Struktur, die Eigenkomplexität, ist das moderne Kunstwerk paradigmatisch. Ihm gelingt es – metaphorisch gesprochen – eine eigene Welt aufzubauen. Das Kunstwerk ist als Werk ein System innerer Dichte.
Und je dichter diese innere Struktur ist, umso eher ergibt sich der Eindruck der Einzigartigkeit. Während die Andersheit das kulturelle Gut überraschend macht, machen innere Dichte und Eigenkomplexität es interessant. Während die Originalität ein qualitatives Merkmal darstellt, ist die Rarität streng genommen ein quantitatives Kriterium, das jedoch qualitativ aufgeladen wird. Die Quantität schlägt hier gewissermaßen in Qualität um: Ein kulturelles Gut wird auf dieser zweiten Ebene dadurch einzigartig, dass es selten und im Extremfall einzigartig ist, nämlich dann, wen es nur in einem einzigen Exemplar existiert, oder aber in einem einzigen Ereignis, das es vorher nie gegeben hat und das nie mehr wiederkehren wird. Quelle: „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz
Von Hans Klumbies