Das Bürgertum hat den Kitsch erfunden

Der Kitsch ist eine Erfindung des Bürgertums. Das bedeutet allerdings nicht, dass vorbürgerlichen Gesellschaften keine kitschigen Gegenstände, Bilder oder Kunstwerke hervorgebracht hätten. Der Adel und die Bauernschaft sind nicht gegen den Kitsch immun gewesen. Alexander Grau erläutert: „Doch kitschig ist niemals ein einziges Artefakt. Ein kitschiger Gegenstand muss, um kitschig zu sein, immer eingebunden sein in eine Kitschkultur, die Kitsch hervorbringt.“ Gäbe es nur einen kitschigen Gegenstand, er wäre nicht kitschig. Ferner gilt: Nicht jede süßliche, überzogene und übertriebene Verirrung des Geschmacks ist Kitsch. Dazu wird schlechter Geschmack oder das Überladene und Überbordende erst, wenn das Zuviel mehr sein will als einfach nur Dekoration. Kitsch beginnt dann, wenn das Übertriebene nicht einfach das Ergebnis einer Übertreibung ist, sondern aufgrund einer kitschigen Ideologie für wahrhaftig gehalten wird. Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist.

Das Bürgertum sehnt sich nacht etwas ewig Gültigem

Kitsch basiert daher auf einem kitschigen Weltbild. Also auf ideologischen Voraussetzungen, die ihn erst möglich machen. Die spezifische gesellschaftliche Stellung, in der sich das Bürgertum nach dem Ende des Feudalismus befand, brachte ein bürgerliches Weltbild und bürgerliche Ideale hervor, die eine Kitschkultur ermöglichten. Kennzeichnend für die sozialpsychologische Situation des Bürgertums im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts war zunächst seine nur teilweise vollzogene Emanzipation von der Feudalwelt des Adels.

Einerseits verstand man sich zwar als Ausdruck der Moderne, also einer fortschrittsorientierten Lebenswelt. Diese stand derjenigen des Adels und seiner Fixierung auf die Bewahrung des Ewigen technisch und ethisch diametral gegenüber. Zugleich aber kompensierte das Bürgertum diese Ideologie des Fortschritts durch eine Sehnsucht nach dem ewig Gültigen. Die Religion konnte im Zeitalter der Aufklärung solche ewigen Werte und Muster der Orientierung nicht mehr im notwendigen Umfang bereitstellen.

Neue Ideologien benötigen eine entsprechende Ästhetik

Das so entstandene Sinnvakuum wurde durch ästhetische und ethische Normen gefüllt. Alexander Grau erklärt: „Entsprechend bekamen Ästhetik und Ethik, eigewoben in Literatur, Kunst und Musik, eine quasireligiöse Bedeutung.“ Waren für den Adel Musik, Kunst und Literatur ein angenehmer Zeitvertreib, soziales Distinktionsmerkmal und Dekoration des schönen Lebens, so wurden sie für das Bürgertum in gewisser Weise Sinnerfüllung, Fluchtorte und Räume der Selbstfindung.

Das Schöne war daher nicht länger Selbstzweck, sondern Ort der Wahrheit, der Erbauung und Veredelung. Doch neue Ideologien benötigen eine entsprechende Ästhetik. Also setzte das Bürgertum der überbordenden Fülle des spätaristokratischen Barock und Rokoko zunächst einen formstrengen Neoklassizismus entgegen. Dieser befriedigte die bürgerliche Sehnsucht nach einer äußerlichen Alternative zur Kultur des Adels und barocken Formen der höfischen Repräsentation. Zudem suggerierte er aufgrund seiner Formensprache eine entsprechende Sittenstreng und ein universales humanistisches Programm. Quelle: „Politscher Kitsch“ von Alexander Grau

Von Hans Klumbies