Seneca rät zur geistigen Vorwegnahme schlechter Ereignisse

Seneca rät: „Wer im Voraus den Blick auf zukünftige Übel gerichtet hat, der bricht ihre Kraft, wenn sie sich einstellen.“ Dies ist eine sehr wirksame Empfehlung im Umgang mit dem Schicksal, auf die Seneca immer wieder hinweist, ist die innere Vorbereitung auf ein mögliches Scheitern einer Unternehmung, auf mögliche Widerstände und Schwierigkeiten, auf ungünstige Abläufe von Geschehen, auf Missgeschicke. Albert Kitzler erklärt: „Die römischen Stoiker nannten es „praemeditatio malorum“, die geistige Vorwegnahme schlechter Ereignisse. Von dem lateinischen Wort „meditari“ (nachdenken, bedenken, sich vorbereiten) leitet sich das deutsche Wort Meditation her. Bei der „praemeditatio malorum“ geht es also um ein Vorausdenken von äußeren Abläufen von Geschehnissen, die den eigenen Absichten und Zielen entgegenstehen oder sie vereiteln können. Der Philosoph und Jurist Dr. Albert Kitzler ist Gründer und Leiter von „MASS UND MITTE“ – Schule für antike Lebensweisheit.

Ein Scheitern ist immer möglich

Seneca sagt: „Der Weise geht an alles mit dem Vorbehalt heran: Wenn sich kein Hindernis in den Weg stellt. Deswegen sagen wir, alles verlaufe ihm nach Wunsch und nichts geschehe entgegen seiner Erwartung, weil er gedanklich vorwegnimmt, es könne etwas eintreten, das seine Absichten verhindert.“ Denn es ist unklug, ohne Vorbehalt davon auszugehen, dass etwas glücken werde. Deshalb erwägt der Weise auch einen anderen Ausgang. Er weiß nämlich, wie leicht man sich irren kann, wie ungewiss die Dinge des Menschen sind und wieviel sich seinen Plänen entgegenstellen kann.

Der Weise folgt dem ungewissen und trügerischen Los der Dinge voller Spannung. Trotz bestimmter Pläne nimmt er ungewisse Ergebnisse hin. Der Vorbehalt aber, ohne den er nichts entscheidet, nichts beginnt, schützt ihn auch hier. Indem man sich bei allen seinen Unternehmungen, Zielen und Wünschen, deren Erfüllung nicht allein von einem selbst abhängt – und das sind die allermeisten –, frühzeitig bewusst macht, dass man vielleicht nicht erfolgreich sein wird, rüstet man sich und bereitet sich innerlich darauf vor.

Innere Werte sind mehr wert als äußere Ziele

Albert Kitzler erläutert: „Läuft es dann tatsächlich anders als gewünscht, bleiben wir ruhig und gelassen. Unvorbereitet zu sein bringt uns aus dem Gleichgewicht, führt zu Ärger, Wut und Enttäuschung und löst für eine mehr oder weniger lange Dauer das Gefühl von Frustrationen aus.“ Hält man jedoch auch einen schlechten Verlauf für möglich, ist die Enttäuschung deutlich geringer, sofern sie sich überhaupt einstellt. Ein positiver Nebeneffekt einer solch mentalen Vorbereitung auf einen ungünstigen Ausgang ist, dass man bei seiner Unternehmung weniger Ängste und Sorgen entwickelt.

Diese entstehen nämlich dann, wenn man den Erfolg unbedingt will. Ein solches Wollen wird auch nicht durch das häufig zu hörende Argument gerechtfertigt, dass man nur dann seine Ziele erreicht, wenn man sie vorbehaltlos anstrebt. Zum einen ist der Preis zu hoch. Denn es geht in der Regel nur um äußere Ziele, die Seneca im Verhältnis zu inneren Werten gering veranschlagt. Die Rechnung wird mit einer bisweilen starken Beeinträchtigung innerer Werte bezahlt. Je intensiver jemand den äußeren Erfolg will, umso unruhiger wird er im Innern und verliert seine Mitte und Gelassenheit. Quelle: „Leben lernen – ein Leben lang“ von Albert Kitzler

Von Hans Klumbies