Die Philosophie führt von der Dunkelheit zum Licht

Platon war der erste Philosoph, der sich theoretisch mit der Frage der Poetik auseinandersetzte. Für ihn ist die Mimesis verdächtig, ontologisch und moralisch gleichermaßen. Mimesis bezeichnet ursprünglich das Vermögen, mittels einer Geste eine Wirkung zu erzielen. Ontologisch, da die empirische Welt bereits eine Imitation ist, ein Schatten der Realität (Wahrheit) der Welt der Ideen. Ágnes Heller erklärt: „Ontologisch gesehen, so Platon, nehmen Philosophie und Dichtung zwei extreme Positionen des Kontinuums ein.“ Ágnes Heller, Jahrgang 1929, war Schülerin von Georg Lukács. Ab 1977 lehrte sie als Professorin für Soziologie in Melbourne. 1986 wurde sie Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Ágnes Heller starb am 19. Juli 2019 in Ungarn.

Die Poesie ahmt die Welt des Schattens nach

Die Philosophie führt den Menschen von der empirischen Welt zur realen und wahren, von der Dunkelheit zum Licht der Sonne. Die Poesie hingegen ahmt die Welt des Schattens nach, und als solche ist sie der Schatten des Schattens. Was die Moral betrifft, so kann nach Platon die Mimesis akzeptiert werden, wenn ein Werk nur die Taten guter Menschen imitiert, die für ihre Güte belohnt werden. Homer lügt über Götter, er ist daher moralisch und politisch gefährlich.

Platon fügt seinen moralischen Vorwürfen gegen das Drama weitere Argumente hinzu. Ein tugendhafter Mensch, so meint er, sagt immer, was er denkt. Doch was ist mit dem Schauspieler? Er muss andere Personen darstellen, nicht sich selbst. Ein Schauspieler muss Dinge sagen, die nicht seinen eigenen Überzeugungen entsprechen. Er ist ein Chamäleon, an einem Tag eine Person, am nächsten Tag eine andere. Am Ende weiß er nicht mehr, was er ist, wer er ist.

Das Neugeborene ist ein absolut universelles Wesen

Ágnes Heller weiß: „Alle drei Einwände gegen die mimetische Kunst werden sich später in der Geschichte der Familienkonflikte zwischen Philosophie und Tragödie mehrfach wiederholen.“ Was ist der Unterschied zwischen den anthropologischen Wurzeln der Tragödie und der Komödie? Zuerst einmal sind beide Dramen und mimetische Künste. Ágnes Heller kommt nun auf die anthropologische Differenz zu sprechen, die für die zukünftige Entwicklung und Geschichte entscheidend ist.

Ágnes Heller blickt zurück: „Fangen wir am Anfang an: Beim Zufall der Geburt. Wir alle werden zufällig in eine bestimmte Welt geworfen. Es gibt nichts in unserer genetischen Veranlagung, das eher zu dieser Welt passt als zu jeder anderen menschlichen Welt, zu jedem anderen Ort oder zu jeder anderen Zeit.“ Um zu überleben, muss jeder Mensch lernen, sich in die besondere menschliche Welt „einzufügen“, in die er oder sie geboren wurde. Das Neugeborene ist ein absolut einzigartiges Wesen und auch ein absolut universelles Wesen. Quelle: „Vom Ende der Geschichte“ von Ágnes Heller

Von Hans Klumbies