Das Soziale liegt im Auge des Betrachters

Die Sozialontologie ist eine Teildisziplin der Philosophie. Sie untersucht systematisch die Frage, ob es allgemeine strukturelle Bedingungen dafür gibt, dass das So-Sein bestimmter Tatsachen sozial ist. Markus Gabriel erklärt: „Eine Tatsache ist dann sozial, wen ihr So-Sein das aufeinander abgestimmte Verhalten mehrerer Individuen einer Spezies involviert.“ Eine soziale Tatsache liegt nicht nur dann vor, wenn mehrere Individuen faktisch eine Handlung derselben Art vollziehen. Denn auch ein einziges Individuum kann durch sein Handeln soziale Tatsachen schaffen oder in sie eingebettet sein, ohne diesen Umstand jemals zur Kenntnis zu nehmen. Das Soziale liegt ziemlich buchstäblich im Auge des Betrachters. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

Es gibt unbekannte soziale Tatsachen

Denn das Soziale besteht darin, dass man anders wahrnimmt als andere, weil man eine Perspektive innehat. Das Innehaben einer Perspektive ist bei geistigen Lebewesen wie der menschlichen Spezies konstitutiv sozial, weil Menschen sozial produzierte Lebewesen sind. Das heißt, sie erblicken überhaupt nur deswegen das Licht der Welt, weil ihre jeweiligen Vorfahren durch ihr Reproduktionsverhalten dafür gesorgt haben, dass es sie gibt. Die Sozialität wird buchstäblich weitervererbt.

Ohne Integration in einen wirklichen sozialen Kontext gibt es keine Handlungen. Markus Gabriel erläutert: „Etwas Bestimmtes zu tun, setzt bei sozialen Lebewesen wie Menschen voraus, dass mehrere Perspektiven vorliegen, die aufeinander abgestimmt sind.“ Diese Abstimmung bedarf keiner expliziten Anerkennung, Einfühlung oder sonstiger als solcher transparenter Haltung zu Fremdbewusstsein. Sie kann unbemerkt hinter dem Rücken der Akteure zustande kommen. Es gibt soziale Tatsachen, von denen niemand jemals explizite Kenntnis erlangen wird.

Soziale Tatsachen sind produziert

Soziale Tatsachen bestehen nicht immer. Ihre Existenz ist kontingent. Sie sind, wie Markus Gabriel sagt: produziert. Wie genau sie sind, das heißt ihr So-Sein, hängt von historisch kontingenten Prozesse der Handlungskoordination ab. Diese sind faktisch durch keinen a priori anzufertigenden Bauplan geleitet. Das Gefüge von Gesellschaften ist deswegen labil und abhängig von einer „productio continua“. Doch dies bedeutet keineswegs, dass soziale Tatsachen etwa von natürlichen Tatsachen isoliert sind.

Wie diejenigen Lebewesen beschaffen sind, die an der Produktion sozialer Tatsachen beteiligt sind, ist schließlich nicht insgesamt Ergebnis sozialer Produktion. Die Sphäre der Gesellschaft ist kein transzendentes „Reich der Zwecke“, das freischwebend durch Gedankenarbeit konstruiert wird. Objektiver Geist ist für Markus Gabriel der Umstand, dass sozial produzierte Tatsachen im Rahmen der menschlichen Lebensform dadurch zustande kommen und fortbestehen, dass Menschen nur dann etwas für wahr halten können, wenn sie durch das Fürwahrhalten anderer Menschen korrigiert werden bzw. das Fürwahrhalten anderer korrigieren. Quelle: „Fiktionen“ von Markus Gabriel

Von Hans Klumbies