Auch das 19. Jahrhundert kennt Menschen ohne Hoffnung. Dieses Leitmotiv war zeitweilig von den dramatischen Gedanken einer Erlösung durch Untergang bestimmt. Der Enttäuschung über das Scheitern der freiheitlichen und demokratischen Verfassungsinitiativen folgte keineswegs stets ein beharrlicher Aufbruch zu neuen Reformen. Sondern es setzte vielfach ein Prozess einer bitteren, teilweise verzweifelten Abkehr. Paul Kirchhof nennt Zahlen: „In den Jahren 1850 – 1855 verließen über 700.000 Emigranten das Land.“ In Kunst und Wissenschaft wurde die Hoffnung auf das Bessere, das Streben auch nach dem Unerreichbaren schwächer. Der Fall in eine Leere wird dramatisch inszeniert. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.
Arthur Schopenhauer lehnt falschen Optimismus ab
Die Seele sehnt sich aus einer Welt menschlichen Leidens hinweg in etwas anderes, Undefiniertes. Erlösung findet der Mensch oft in der Verneinung des Willens. Zum Beispiel in einer besonderen Askese, in der Kontemplation und im Hören vollkommener Musik. Er gewinnt Gelassenheit durch gänzliche Willenlosigkeit. Rettung erlebt der Mensch bei vollständigem Erlöschen aller Individualität, welche die damalige Welt im indischen Denken mit seiner Vorstellung des Nirwana fand.
Auch der Kreuzestod entwickelt sich zu einem Symbol für die Willensverneinung. In Richard Wagners „Ring“ begeht Brünnhilde Selbstmord. Damit befreit sie durch die Annahme ihres Schicksals sich und die Welt aus dem endlosen Kreislauf von Wiedergeburt, Verlangen und Tod. Diese pessimistische Suche nach Erlösung aus dieser Welt prägte auch das Denken von Arthur Schopenhauer. Dieser trug die buddhistische Lehre der Entsagung in die europäische Philosophie hinein. Er wandte sich damit gegen die Aufklärung mit ihrem falschen Optimismus eines leeren Vernunft- und Fortschrittsglaubens.
Der Wille führt in ein Streben ohne Ende
Die Menschen sind laut Arthur Schopenhauer mit der Illusion des Willens als Vorstellung infiziert. Beim Bestreben, die Welt zu verändern, haben sie dabei aber die selbstverleugnende Askese und die Distanz gegenüber der Welt des Fleisches vernachlässigt. Nur in der Kontemplation entrinnt der Mensch den Zwängen der Nützlichkeit. Der Wille dagegen führt in ein Streben ohne Ende. Ist ein Wunsch erfüllt, so stellt sich der Wunsch in neuer Gestalt ein: „Wo nicht, so folgt Öde, Leere, Langeweile.“
Arthur Schopenhauer vermittelte ein Lebensgefühl, das den Menschen all die Nichtigkeiten und Vergeblichkeiten des Daseins in der Welt der Natur vor Augen führt. Er macht im unaufhörlichen Wirken des Willens in der Welt bewusst, dass alles Leben leidend ist. Paul Kirchhof fügt hinzu: „Am Ende dieser Lebensgeschichte als Leidensgeschichte steht der Tod. Das menschliche Glück besteht darin, sich selbst hinter sich zu lassen.“ Wenn der Mensch ohne Hoffnung sich selbst zu zerstören droht, kann die Musik ihm Rettung bringen, die Kontemplation ihm helfen, seinen Willen hinter sich zu lassen und zur Gelassenheit zu finden. Quelle: „Beherzte Freiheit“ von Paul Kirchhof
Von Hans Klumbies