Die Offenheit des Geistes, dieses treue Folgen des Verstandes, führte über eine Arbeit von mehreren Jahrhunderten zu den sublimsten Einsichten. Die großen Physiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewiesen auf die konkreteste Weise, dass man den Kern der Materie nicht unabhängig vom beobachteten Subjekt betrachten kann. Denn die Beobachtung eines Subjekts verändert das Subjekt selbst. Matthias Desmet erläutert: „So zeigte Werner Heisenberg in seiner berühmten Unschärferelation, dass selbst rein materielle „Fakten“, wie die Lokalisierung von Teilchen in Zeit und Raum, nicht eindeutig bestimmbar sind.“ Die großen Geister, die der Ratio und den Fakten am treuesten folgten, kamen sogar zu dem Schluss, dass der Kern der Dinge letztlich nicht in Logik zu fassen sei. Mattias Desmet ist Professor für Klinische Psychologie an der Abteilung für Psychoanalyse und klinische Beratung der Universität Gent.
Die Materie organisiert sich unablässig in Formen
Und Niels Bohr resümierte schließlich, nur mit Poesie könne man etwas Wesentliches über das unter logischen Gesichtspunkten absurde Verhalten von Elementarteilchen sagen. Der dänische Physiknobelpreisträger erklärte: „Wir müssen uns klar darüber sein, dass man die Sprache hier nur ähnlich gebrauchen kann wie in der Dichtung.“ Und der amerikanische Mathematiker und Meteorologe Edward Lorenz erklärte die ganze Idee der Vorhersagbar der Welt und der Dinge für ungültig.
Matthias Desmet fügt hinzu: „Und schließlich erwies sich auch das Bild vom Universum als totem und ziellosen – nicht-teleologischem – mechanischem Prozess wissenschaftlich als unhaltbar.“ Die Chaostheorie zeigte auf wahrhaft revolutionäre Weise, dass sich die Materie unablässig in Formen organisiert. Dabei handelt es sich um einen Vorgang, den man mit mechanistischen Begriffen überhaupt nicht erklären kann. Es stecken Zielgerichtetheit und Willen im Universum. Isaac Newton sagte es schon im 17. Jahrhundert: Die Gesetze der Mechanik sind nur auf einen sehr begrenzten Teil der Wirklichkeit anwendbar.
Entdecker müssen in die Haut der Dinge schlüpfen
Und je weiter die Wissenschaft voranschritt, desto deutlicher wurde das – zumindest für diejenigen, die es sehen wollten. Der Mathematiker René Thom formulierte es im 20. Jahrhundert so: „Der Teil der Realität, der gut mit Gesetzen beschrieben werden kann, die Berechnungen erlauben, ist extrem begrenzt.“ Von ihm stammt auch folgendes Zitat: „Alle bedeutenden theoretischen Fortschritte sind meiner Meinung nach aus der Fähigkeit ihrer Entdecker hervorgegangen, in die Haut der Dinge zu schlüpfen, sich in alle Entitäten der externen Welt einfühlen zu können.
Es ist diese Art der Identifikation, die ein objektives Phänomen in ein konkretes Gedankenexperiment transformiert. Matthias Desmet stellt fest: „Dies wirft ein überraschendes Licht auf das Wesen wissenschaftlicher Forschung. Wir glaubten, Wissenschaft bestehe darin, trockene logische Zusammenhänge zwischen objektiv wahrnehmbaren Fakten herzustellen.“ Aber eigentlich wird sie durch eine Fähigkeit zur Empathie realisiert, eine Art resonierenden Einfühlens in das zu untersuchende Phänomen. Quelle: „Die Psychologie des Totalitarismus“ von Matthias Desmet
Von Hans Klumbies