Markus Gabriel erforscht soziale Tatsachen

Die Sozialontologie untersucht die Frage, worin die Existenz sozialer Tatsachen besteht. Dabei ist die Hauptströmung der Sozialontologie laut Markus Gabriel naturalistisch massiv vorbelastet: „In der Regel wird sie nämlich unter der Auflage eines Verortungsproblems motiviert.“ Die Frage dabei lautet: Wie passen soziale Tatsachen in eine letztlich oder fundamental nicht-soziale Wirklichkeit, die Natur, hinein? Die Natur wird in diesem Rahmen als dasjenige in Anschlag gebracht, was ohne menschliches Zutun vorfindlich ist. Das Soziale wird hingegen nach dem aristotelischen Modell als Menschenwerk aufgefasst. Die gegenwärtige Sozialontologie verdankt sich einer Variante der Frage, ob es metaphysisch irreduzible Elemente des objektiven Geistes gibt. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

Der menschliche Organismus ist sozial produziert

Markus Gabriel erklärt: „Dies ist der Ausgangspunkt der inzwischen kanonischen, aber irreführenden Annahme, das Soziale sei als solches konstruiert. Darin sind sich so verschiedene Theoretiker wie Searle, Butler und Haslinger einig, um nur einige jüngere aufzuzählen.“ John Searle behauptet, es gebe genuin soziale Tatsachen, die darin bestehen, dass etwas als etwas gelten kann, was es eigentlich nicht ist. Ein bedruckte Stück Papier gilt im Rahmen einer bestimmten Ökonomie als Geld. Ein Mensch als Träger eines Namens.

Das erste gravierende Problem dieses Ansatzes ist für Markus Gabriel, dass der Kontext, in dem ein x für ein y gilt, seinerseits bereits sozial sein muss. Es muss eine Institution geben, dank derer die konstitutive Regel Bestand hat, ein x habe als y zu gelten. Der menschliche Organismus ist sozial produziert. Menschen wachsen nicht gleichsam auf Bäumen, sondern unter höchst spezifischen Bedingungen, zu denen andere Menschen gehören. Sofern überhaupt jemand ein Mensch ist, sind andere Menschen und deren soziale Beziehungen an seinem Zustandekommen beteiligt.

Vorbilder prägen Regeln

Da der menschliche Leib ein soziales Produkt ist, scheitert die Reduktion sozialer Tatsachen auf ein emergentes Phänomen. Weder lässt sich das Bewusstsein auf etwas reduzieren, was noch gar nicht sozial ist, noch kann man die Sprache als Ausgangspunkt des Sozialen namhaft machen. Denn es gibt vielmehr soziale Tatsachen, ohne die es keine Sprache gäbe, sodass diese schon in vorsprachlicher Sozialität verankert ist. Der hier vertretene soziale Realismus verabschiedet sich deswegen von der Formel, dass soziale Tatsachen darin bestehen, dass in einem Kontext K ein x für ein y gilt.

Wer sprechen lernt, ist bereits Mitglied einer Gemeinschaft, die grammatisiertes Verhalten, das heißt öffentlich erkennbare Verhaltensmuster aufweist. An diesen können sich verschiedene Individuen orientieren. Markus Gabriel erläutert: „Menschliches Verhalten, das jemand beobachtet, der sprechen lernt, ist auf eine Weise habitualisiert, die erlaubt, sich an ihm auszurichten. Wer einer Regel folgt, folgt zunächst einem Vorbild.“ Spracherwerb gründet also in partiell vorsprachlicher Sozialität. Denn diejenigen, die man in eine Sprache einführt, gehören schon zu einer sozialen Struktur. Quelle: „Fiktionen“ von Markus Gabriel

Von Hans Klumbies