Medea wird zur Mörderin

Das bekannteste Stück von Euripides ist „Medea“. Eine Magierin aus Kolchis, vom Rande der zivilisierten Welt, betritt den sauberen Boden der Polis. Jürgen Wertheimer fügt hinzu: „Eine Barbarin an der Seite eines griechischen Helden, des Argonauten Jason, Eroberer des Goldenen Vlieses, zieht in Korinth ein.“ Sehr früh treten Frauen als Helferinnen und Organisatorinnen im Hintergrund in Erscheinung. Bereits Theseus hatte den Minotaurus unter tatkräftiger Mitwirkung Ariadnes zur Strecke gebracht. Medeas aktive Rolle geht jedoch sehr viel weiter. Um ihrer Liebe willen hatte sich ihm nicht nur bei Diebstahl der begehrten Trophäe geholfen, sondern sogar den Tod des eigenen Bruders in Kauf gekommen. In Korinth unternahm Medea zaghafte Integrationsversuche, die jedoch ins Leere liefen. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Jason will die Tochter des Königs von Korinth heiraten

Jason ist mittlerweile entschlossen, sich von ihr zu trennen, um eine strategisch günstige Ehe mit der Tochter des Königs von Korinth zu schließen. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Alle Verbrechen, die sie mit ihm zusammen begangen hat, alle Opfer, die sie für diese Liebe gebracht hat, sind damit entwertet.“ Aus der mächtigen Komplizin eines bewundernswert großen Raubzugs ist mit einem Schlag eine jämmerliche Altlast geworden. Von dieser würde man sich gern entledigen.

Euripides wählt die kühnstmögliche Variante, um das Dilemma auf die Spitze zu treiben. Aus der Heilerin, als die Medea auch bekannt war, wird bei Euripides eine Mörderin. Ihrer Rache fallen erst die neue Braut und deren Vater zum Opfer. Dann ermordet sie ihre beiden Kinder. Anschließend flieht sie auf einem Drachenwagen, den Helios, der Sonnengott, ihr schickt. Höhnisch benennt sie ihr eigentliches Anschlagsziel: Jason! Dich wollt ich treffen, und: „Dich hab ich getroffen!“

Medea erntet Bewunderung statt Mitleid

Am Ende steht sie eher als dominante und keineswegs als reuige oder gar zerbrochene Figur auf der Bühne. Sie erregt beim Publikum eher eine tendenziell problematische Form der Bewunderung statt Mitleid. Jürgen Wertheimer fügt hinzu: „Eine kühne Wendung, die die athenischen Theaterbesucher vermutlich spürbar irritierte.“ Unwillkürlich muss man an Klytämnestra denken, die wegen eines geringeren Verbrechens zur Verantwortung gezogen und vom eigenen Sohn hingerichtet wurde.

Was beide Täterinnen verbindet, ist der hochmütig dominante Gestus nach der Tat. Im Angesicht der erschütterten Polis bekennt sich die Mörderin ihres Mannes in der „Orestie“ sich gleichermaßen kalt und leidenschaftlich zu ihrer Tat. Ähnlich Medea, das heilige Monster, das alle Grenzen der Moral zu sprengen scheint und auf diesem Weg zu sich findet. Seneca wird zwei Jahrhunderte später die Formel „Medea fiam“ prägen. Man könnte sie mit „jetzt werde ich wieder ganz die ursprüngliche Medea sein“ umschreiben. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer

Von Hans Klumbies